kommunisten.ch

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Vorbemerkung: Es mag bei diesem oder einem Leser Verwunderung hervorrufen, hier einen Artikel veröffentlicht zu finden, worin unbefangen Enrico Berlinguer zitiert wird und der Titos Jugoslawien mir nichts dir nichts als “sozialistisches Land” durchgehen lässt. Wenn wir dennoch zur Verbreitung des lesenswerten Artikels eines jungen Mailänder Genossen beitragen möchten, dann weil dieser in beispielgebender Weise eine überaus notwendige und vielversprechende Tendenz der gegenwärtigen kommunistischen Jugend repräsentiert: die Tendenz zur vorurteilsfreien Erforschung von neuen, noch nicht erkundeten Wegen. (mh/6.5.2015)


Heute Kommunist sein: unsere Wurzeln wieder entdecken und ihre zeitgemässe Anwendung studieren

von Fabio Scolari [1]

Wer sich in der heutigen globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts als Kommunist definiert, und sei dies bloss in einem einfachen Gespräch unter Freunden, kann ein Gefühl des Misstrauens beim Zuhörer hervorrufen. Der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion haben nicht nur das Ende einer Hoffnung von Millionen Menschen gekennzeichnet, sondern versetzten auch dem Ansehen alle jener einen schweren Schlag, die noch eine Transformation der Gesellschaft in sozialistischer Richtung anstreben. Zur Verschlimmerung dieser Situation fügten sich, besonders in Westeuropa, mit wenigen Ausnahmen, sogar zerstörerische Versuche einer “Wiedergründung” (rifondazione) des kommunistischen Ideals, die in Wahrheit einem schlichten und reinen Liquidationismus in der ruhmreichen und auch komplexen Geschichte der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts als Tarnung dienten.

Beginnen wir am Anfang, beim Ereignis, welches ohne jeden Schatten des Zweifels die grosse Wende innerhalb der Arbeiterbewegung markiert, bei der Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland. Lenin brach mit der Zögerlichkeit und zertrümmerte “das schwächste Glied” der imperialistischen Kette. Die Reaktionen innerhalb von sozialistischen Parteien, die unterschiedliche politische Konzepte vertreten, sind natürlich geteilt. Die reformistischen Sozialisten, die wegen einer deterministischen und mechanizistischen Auffassung der marxistischen Theorie unfähig sind, Tiefe und Tragweite des Ereignisses zu begreifen, werden es in der Tat fertig bringen, die Macht der Bolschewiki erbittert zu attackieren, wie in den bekanntesten Fällen der Renegaten Turati und Kautsky.

Zwei andere Daten, an die es zu erinnern gilt, sind 1919 als Jahr der Gründung der III. Internationale, und 1921, als auf Vorschlag des russischen Revolutionsführers in 21 Punkten die Bedingungen für die Aufnahme in der neuen revolutionären Organisation festgelegt wurden (unter den bekanntesten: die Änderung des Parteinamens und der Ausschluss der Reformisten). Diese Episode erhält noch eine tiefere Bedeutung, weil die bedingungslose Annahme eines solchen Dokumentes eben gerade zu den Abspaltungen von kommunistischen Minderheiten aus der sozialistischen Bewegung und zur Gründung der ersten Kommunistischen Parteien nach dem Modell der Bolschewiki führten (mit Ausnahme der deutschen KPD und ungarischen MKP).

Die leninistische Doktrin und Interpretation, ausser dass sie das Marx’sche Denken in lebendige Praxis übersetzt, bedeutet auch die Bestätigung und Unumkehrbarkeit des Bruchs zwischen beiden Lagern der Arbeiterbewegung, der sich schon bei den internationalen Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal offenbart hatte, wo in der Frage der Kampfstrategie in den Jahren des Ersten Weltkriegs die reformistischen Sozialisten und Zentristen auf einer Seite, die Kommunisten auf der anderen Seite gestanden waren.

An diesem Punkt muss klar festgehalten werden, was in der vorangehenden Synthese vermutlich schon durchscheint: im Gegensatz zu einigen unfähigen politischen Führern der Gegenwart, welche sich als Träger von neuen revolutionären Doktrinen zelebrieren, und die mit einer fast bilderstürmerischen Wut das Werk von Lenin angegriffen und als theoretische Inspirationsquelle ihres Handelns ausgelöscht haben, sind wir der Auffassung, dass man als Kommunist heute nicht darum herum kommt, das kritische und vertiefte Studium des Werkes zum Ausgangspunkt zu nehmen, welches uns vom Führer der Bolschewiki und von allen seinen nachfolgenden Interpreten als Erbschaft hinterlassen wurde.

Selbstverständlich ist es notwendig, seine Vorschläge und seine Analysen in den richtigen Zusammenhang zu stellen, aber – und es ist leider nie überflüssig, dies zu sagen – zu vermeiden, dass sie sich in auf beliebige Epochen anwendbare Leerformeln verwandeln, die vom historischen Zusammenhang abstrahieren. Diese Prämisse erweist sich als notwendig einerseits um den Revisionismus und den in der gegenwärtigen fortschrittlichen Bewegung herrschenden Eklektizismus zu bekämpfen, den wir für einen der wichtigsten Gründe für die desaströse Lage der westlichen Linken betrachten. Nur ein Naivling würde nicht bemerken, dass die Preisgabe des Leninismus, verstanden als Entwicklung des Marxismus in der Epoche des Imperialismus, damit einher geht, dass viele politische Formationen, welche auf ihren Symbolen Hammer und Sichel zur Schau stellen, in die Sozialdemokratie abgleiten. Anderseits hilft uns dies jedoch, dem heutigen kommunistischen Aktivisten die Waffen zurückzugeben, um die Welt richtig zu interpretieren und demzufolge jede Art von politischen Kämpfen zu unterstützen.

Haben wir uns einmal unserer theoretischen und ideologischen Wurzeln wieder bemächtigt, so können wir auch eine andere, viel wichtigere Frage der ideologischen Polemik beantworten, welche einige westliche “Kommunisten” des 21. Jahrhunderts allgemein in Verlegenheit bringt: Wo finden unsere Ideen Verwirklichung? Wo produzieren sie konkrete Resultate?

Der kindische Vorwurf, der mittlerweile wie ein Faktum verkauft wird, dreht sich um die “Evidenz”, dass Marx, Lenin, Gramsci und alle Persönlichkeiten, die zu unserer Geschichte gehören, nunmehr unter den Trümmern der Mauer und unter dem Triumph des imperialistischen Systems begraben sind. Um solchen “Gewissheiten” zu begegnen, wollen wir von einem Zitat ausgehen, das dem von Lenin selbst vorbereiteten “Bericht an den III. Kongress der Kommunistischen Internationale” (1921) entnommen ist, und worin wir lesen:

“Und hier kommen wir zu dem schwierigsten Punkte. Die Naturalsteuer bedeutet, selbstverständlich, Freiheit des Handels. Der Bauer kann den Rest seines Getreides, der ihm nach der Naturalsteuer bleibt, frei austauschen. Diese Freiheit des Austausches bedeutet Freiheit des Kapitalismus. Wir sagen das offen und wiederholen das. Wir verhehlen das nicht. Es wäre schlimm um uns bestellt, wenn wir das verheimlichen wollten. Freiheit des Handels bedeutet Freiheit des Kapitalismus, es bedeutet aber eine neue Form des Kapitalismus, es bedeutet, dass wir den Kapitalismus bis zu einem gewissen Grad neu schaffen. Wir machen das ganz offen. Es ist Staatskapitalismus. Allein Staatskapitalismus in einer Gesellschafrt, in der der Kapitalismus die Macht hat, und der Staatskapitalismus in einem proletarischen Staat sind zwei verschiedene Begriffe. In einem kapitalistischen Staat bedeutet der Staatskapitalismus, dass der Kapitalismus vom Staate anerkannt, vom Staate kontrolliert wird zum Nutzen der Bourgeoisie gegen das Proletariat. In einem Proletariatsstaate geschieht dies zum Nutzen der Arbeiterschaft, um gegen die noch immer allzu starke Bourgeoisie bestehen und kämpfen zu können. Wir müssen also der fremden Bourgeoisie, dem ausländischen Kapital Konzessionen gewähren- Wir geben ohne die geringste Entstaatlichung Bergwerke, Wälder, Nphtagruben an auswärtige Kapitalisten, um von ihnen industrielle Artikel, Maschinen usw. zu erhalten, um auf diese Weise unsere Industrie herzustellen.”

Der historische Moment, in dem diese Worte geschrieben und ausgesprochen wurden ist jener der NÖP (Neue Oekonomische Politik): nach Abschluss des Bürgerkrieges und des Kriegskommunismus beschlossen Lenin und die junge bolschewistische Regierung eine teilweise Liberalisierung in der Produktion und im Handel, um die Wirtschaft des Landes wieder aufzurichten. Die Rolle, welche der Markt bei der Entwicklung der Produktivkräfte spielte, beginnt mit grösserer Tiefe untersucht zu werden. Aus verschiedenen internen und internationalen Gründen reissst der Faden dieser Analyse in den folgenden Jahren ab, als unter der Führung von Stalin die Entscheide der führenden sowjetischen Gruppe auf eine Kollektivierung und Industrialisierung in forcierten Etappen sowie auf umfassende Verstaatlichung der Produktionsmittel ausgerichtet werden.

Die Geschichte hat uns allerdings an spektakuläre Knalleffekte gewöhnt: nach dem Tode von Mao Zedong fiel die “Viererbande”, Deng Xiaoping begann in einem zurückgebliebenen und bäuerlichen China eine Reihe von Reformen und Öffnungen mit dem Ziel, das Leben von Millionen von Menschen zu verändern. Seine Nachfolger sind auf dem von Deng gezeichneten Weg voran geschritten und haben in gewisser Weise die letzten Analysen des bolschewistischen Führers wieder abgestaubt und bereichert, welche er wegen seines drei Jahre später eingetretenen Todes nur summarisch darlegen konnte. Jiang Zemin lieferte von der Tribüne des 15. Kongresses der Kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1997 in wenigen Worten ein vollständiges Bild des Wandels, der in dem asiatischen Lande unternommen wurde:

“Aufbau einer sozialistische Wirtschaft mit chinesischen Charakterzügen bedeutet Entwicklung einer Marktwirtschaft unter sozialistischen Bedingungen und Freilegung und stetige Entwicklung der Produktivkräfte. Um genauer zu sein: wir müssen das grundlegende Wirtschaftssystem stärken, in dem das öffentliche sozialistische Eigentum herrschend bleibt, und in dem verschiedene Eigentumsarten sich nebeneinander entwickeln. Wir müssen die sozialistische Marktwirtschaft in der Weise beibehalten und verbessern, dass der Markt eine wesentliche Rolle bei der Zuteilung von Ressourcen spielt, unter makroökonomischer Kontrolle des Staates.”

Zum Dilemma, vor denen sich die chinesischen Führer damals und heute befanden, müssen wir unbedingt ein einschlägiges Editorial von Palmiro Togliatti unter dem Titel “Reise in Jugoslawien” (Viaggio in Jugoslavia, 1964) in Erinnnerung rufen:

“In der Wirtschaft besteht die Eigenheit darin, dass einerseits in der Anwendung des demokratischen Prinzips auf die gesamte neue ökonomische Struktur, durch das System der Arbeiterselbstverwaltung; anderseits in einer Methode der Planung, welche den Markt und seine Gesetze nicht eliminiert, weder in den internen Beziehungen noch in den internationalen Beziehungen, so dass er einer komplexen Realität Raum gibt, die den Gegenstand von aufmerksamem Studium bilden muss.”

Einen anderen Denkanstoss für das Verständnis der Strategie, welche die Kommunistische Partei Chinas ausgearbeitet hat, um eine moderne sozialistische Gesellschaft zu erreichen, offerierte uns ein weiterer italienischer kommunistischer Parteiführer, Enrico Berlinguer, in einer Antwort an Giampaolo Pansa:

“Erstens: im Gegensatz zu dem, was die Klassiker des Marxismus vorsahen, existiert das Gewebe von kleinen und mittleren Betrieben in Industrie, Gewerbe, Handel und Landwirtschaft weiterhin, und hat sich gerade in Italien als sehr wichtig für das Wachstum und die Beschäftigung erwiesen. Zweitens: totale Nationalisierungen (wie in der Tschechoslowakei der ‘50er Jahre, wo alles verstaatlicht wurde, sogar die Coiffure) haben sich als schädlich erzeigt. Drittens: Bei uns ist der öffentliche Sektor schon sehr ausgedehnt. Deshalb können gemischte Formen von öffentlich und privaten Betrieben auch in einer sozialistischen Gesellschaft existieren. Gerade in einem industrialisierten Land wie Italien ist es nicht nur unter wirtschaftlichen, sondern unter allen Gesichtspunkten vorteilhaft, das private Unternehmen beizubehalten. Das einigende Element wird gegeben durch die Planung, die einen Rahmen von Sicherheiten schafft, in welchem sowohl der private wie der öffentliche Sektor operieren können.”

Diese beiden letzten Zitate zeigen, dass die gegenwärtigen chinesischen Kommunisten, auch wenn sie einerseits mit dem Terminus “Marktsozialismus” nichts Neues erfunden haben, sondern gewissermassen Jahrzehnte von Analysen und Erfahrungen vieler kommunistischer Denker in einer Formel zusammenfassen, heute vor der schwierigsten Aufgabe stehen, die auf sie zufällt: nämlich vor der Aufgabe der neuen Diskussion eines breiten Teils dessen, was jahrzehntelang unangefochten als unerschütterliche Wahrheiten des Marxismus-Leninismus angesehen wurden, und die seine Entwicklung, aber auch seine Stagnation und seinen Niedergang in den Ländern, die sich auf ihn beriefen, gekennzeichnet haben. Es ist der Erinnerung wert, dass die Entscheidung der früheren ostdeutschen Behörden, im Juni 1971 definitiv jede Form von Privatbetrieb abzuschaffen (wobei etwa 11’000 lebensfähige Betriebe aufgelöst wurden) der Volkswirtschaft der damaligen DDR schweren Schaden verursacht hat.

Wir finden daher starke Analogien zwischen dem Verhalten der sozialistischen Reformisten von anfangs des 20. Jahrhunderts, die der Sozialistischen Oktoberrevolution schändlich die kalte Schulter zeigten, und dem Verhalten von einem der wenigen gegenwärtigen Kommunisten (oder wenigstens einem, der sich noch dazu bekennt), der die chinesische Erfahrung als Rückfall in den Kapitalismus abtun will und nicht imstande ist, die einfache, meisterhaft aufgebaute Lektion von Prof. Domenico Losurdo zu verstehen:

“der Kampf gegen das (US-amerikanische) Vormachtstreben entfaltet sich auch auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung. Diesen Punkt vermag die westliche Linke leider nicht immer zu verstehen. Man muss es also stark hervorheben: revolutionär ist nicht nur der lange Kampf, mit dem das chinesische Volk dem Jahrhundert der Demütigungen ein Ende gesetzt und die Volksrepublik gegründet hat; revolutionär ist nicht nur der ökonomische und soziale Aufbau, mit dem die chinesische Kommunistische Partei Hunderte von Millionen von Menschen vom Hunger befreit hat; auch der Kampf zur Brechung des imperialistischen Monopols der Technologie ist ein revolutionärer Kampf.”

Schlussfolgerung: die mutigen Entscheide, die in den letzten 30 Jahren von verschiedenen Generationen der chinesischen kommunistischen Politiker erfüllt werden mussten, und die heute auch von den kommunistischen Regierungen Vietnams und Kubas studiert und teilweise übernommen werden, sind auch eine Folge der Erschöpfung der Möglichkeiten des “sowjetischen Systems”, das sich in seinen eigenen Widersprüchen verwickelte und schliesslich in sich zusammenfiel, denn von daher kam die Notwendigkeit, neue, nie zuvor erkundete Wege zu gehen, um das sozialistische System der jeweiligen nationalen Gegebenheiten anzupassen. Man könnte vielleicht sagen, dass die Existenz Volkschinas die Wahrhaftigkeit einer allgemeinen Regel beweist: die Realität erzeigt sich als etwas extrem Komplexes und ist reich an Widersprüchen; ein Prozess der radikalen Transformation muss ausser von einer dialektischen Analyse auch von einer extrem flexiblen politischen Taktik begleitet sein; dabei sind dogmatische und einseitige Positionen zu vermeiden, so klar auch die strategische Perspektive sein soll, der man zu folgen beabsichtigt, und so rein auch die politisch-ideologische Kaderschulung der Partei sei.
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1 Fabio Scolari ist ein junger Universitäts-Student aus Mailand und arbeitet mit der Kommunistischen Partei (Schweiz) zusammen.

Original: sinistra.ch | Essere comunisti oggi: riscoprire le radici e studiarne le moderne applicazioni (15 Marzo 2015) | Übersetzung aus dem Italienischen: Kommunisten.ch (06.05.2015)


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