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Imperialistische Pläne zur Balkanisierung Westasiens werden durchkreuzt

(06.09.2016)

Die Operation “Schutzschild Euphrat”

Der “Schutzschild Euphrat”, so die offizielle Bezeichnung für die Operation der Türkischen Streitkräfte (TSK), deren Verbände am 24. August die syrische Grenze passiert haben, dient nach Angaben aus Ankara unmittelbar der Säuberung des Grenzgebietes, vom welchem aus regelmässig Raketen auf türkisches Territorium abgefeuert werden, von Terroristen des selbsternannten “Islamischen Staates” (ISIS oder Da’esh) und der PKK, die in Syrien unter wechselnden Namen auftritt (zivil: PYD; militärisch: YPG, SDF). Mittelbarer Zweck des “Schutzschildes” ist die Verhinderung eines von der PKK kontrollierten Korridors, der die Türkei und Syrien voneinander trennen würde. Die Schaffung eines solchen “kurdischen Korridors”, der sich nicht auf Nordsyrien beschränken, sondern im Endausbau vom Mittelmeer bis zum Schwarzen Meer reichen und damit die Türkei überhaupt gegen Asien isolieren soll, entspricht einem lang gehegten Plan der aggressivsten Kreise Washingtons, Tel Avivs, welche die lokal oder aus aller Herren Länder rekrutierten Söldnerbanden als eigene Bodentruppen betrachten, diese (auch mit saudischem Geld) bezahlen und (auch mit deutschen Waffen) aufrüsten und schliesslich durch eigene “Berater” instruieren oder kommandieren lassen. Inzwischen verfügt die US Air Force (USAF) über mehrere Stützpunkte in den von kurdischen Terroristen okkupierten Gebieten Nordsyriens.

Bedeutung für das Verhältnis Türkei-Syrien

Der syrischen Nachrichtenagentur SANA zufolge hat das Aussenministerium der Syrischen Arabischen Republik gegen das türkische Unterfangen protestiert und dieses als Verletzung der Souveränität Syriens eingestuft, welche laut SANA der Türkei und den USA gemeinsam angelastet wird. (Entgegen erster türkischer Berichte haben allerdings die US-Streitkräfte an der Operation nicht teilgenommen. Die türkische Presse meldet sogar, dass die USAF im nahegelegenen Incirlik die zugesicherte Luftunterstützung der TSK gegen Angriffe von Seiten der IS-Truppen verweigert und die türkischen Kräfte in Gefahr gebracht haben soll.)

Auf der rhetorischer Ebene der bilateralen Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus herrscht nach wie vor ein feindseliger Ton vor. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan machte an einer Pressekonferenz am Rande des G20-Gipfels in Hangzhou (China) seinen syrischen Amtskollegen Baschar al-Assad für Hunderttausende von toten Syrern verantwortlich.

Da die Regierung von Damaskus nicht in der Lage ist, dem Treiben der Terroristen im Norden des Landes ein Ende zu setzen, weil sie an anderen Fronten genug zu tun hat und weil ihren Truppen der Zugang zur türkischen Grenze von verschiedenen regierungsfeindlichen, von den USA unterstützten Milizen versperrt wird, liegt es nahe, dass Ankara sich durchgerungen hat, zur Sicherung der Landesgrenzen zur Selbsthilfe zu greifen und die Terroristen aus Schussweite zu verjagen. Diesem Argument, gegründet auf das Recht zur Selbstverteidigung der Türkei und die Handlungsunfähigkeit des primär zuständigen Syriens, wird man sich in Moskau, Teheran und sogar Damaskus nicht völlig verschliessen. Obwohl man dagegen halten könnte, dass die eingetretene Schwächung und daher rührende Handlungsunfähigkeit des syrischen Staates von Ankara selbst mitverschuldet sei, so dass die Berufung der Türkei auf diesen Umstand dem Versuch gleichkomme, aus eigenen zurückliegendem Fehlverhalten nun auch noch Rechte für sich ableiten zu wollen, was denn gemeinhin als rechtsmissbräuchlich gilt. Sobald wir aber anfangen, historische Schulden aufzurechnen, wird jede völkerrechtliche Debatte zum gordischen Knoten. Denn so wie die Türkei syrische “Rebellen” unterstützte, hat auch Syrien langezeit der PKK Unterschlupf und Hilfe gewährt, so dass sich jede der beide Parteien bei der eigenen Nase fassen könnte. Natürlich wird man die Fehler der türkischen Führung schwerer gewichten, und Erdogan persönlich eine grosse Verantwortung für das heutige Desaster zuschreiben müssen. Aber das hilft nicht viel weiter: Zu durchhauen ist der Knäuel aller Fehler und Leiden der Vergangenheit wohl nur durch die Orientierung auf die Zukunft, das heisst auf das gemeinsame Ziel und die auf Dauer nur gemeinsam und im Verbund mit weiteren Staaten lösbare Aufgabe der Sicherung der Souveränität, territorialen Integrität und Selbstbestimmung der Länder Westasiens. “Terroristen dürfen nicht in gute und schlechte aufgeteilt werden”, sagte Putin laut de.sputniknews.com (05.08.2016). Eine russische Vermittlung auf der Basis dieses Prinzips, welches nicht nur eine Absage an den PKK-Terrorismus einschliesst, sondern sich ganz generell gegen die von den NATO-Mächten angewendeten Doppelstandards in der Terrorismusbekämpfung richtet, bietet da wohl einige Aussichten auf Erfolg.

Bedeutung für das Verhältnis Türkei-Russland

Die engsten Verbündeten Syriens, Russland und Iran, sehen in der türkischen Initiative zur Errichtung einer weiteren Front gegen die Terroristen naturgemäss eine willkommene eigene Entlastung auf militärischer Ebene, rügen aber Ankara dafür, dass es sich nicht mit Damaskus selbst über das Vorgehen verständigt hat. Aufs Ganze gesehen behält natürlich die positive Beurteilung, welche von der objektiven Realität der sich verschiebenden Kräfteverhältnisse ausgeht, die Oberhand über Bedenken wegen diplomatischer Mängel des Vorgehens. Der russische Präsident Wladimir Putin bemerkte am G20 unter Hinweis auf Geheimdienste und Aussenministerien, dass der türkische Vorstoss nicht unerwartet kam: „Im Prinzip haben wir verstanden, was passiert, wohin es führt. (…) Hier gab es für uns im Grossen und Ganzen keine Überraschungen. Doch muss ich nochmals wiederholen, dass wir keine Handlungen begrüssen, die den Normen und Prinzipien des internationalen Rechts widersprechen“, sagte Putin laut de.sputniknews.com (05.09.2016). Wie die englische Ausgabe von sputnik.com vom gleichen Datum ergänzt, legte Putin Wert dabei auf die Fortsetzung des Dialogs über Syrien, sowohl mit der Türkei wie mit den USA.

Mit offenerer Unterstützung aus Moskau wird die türkische Aktion derzeit nicht rechnen können, aber das mag sich ändern, denn der russisch-türkische Dialog über Syrien steht erst am Anfang. Einige Quellen wollen allerdings wissen, dass Russland und Syrien schon jetzt unter der Hand den türkischen Operationen zugestimmt haben sollen, oder sprechen sogar von gemeinsamen Planungen auf operativer Ebene unter Mitwirkung von russischen Generalstabsoffizieren; siehe Valentin Vasilescu: Russia, Syria And Turkey Have Agreed On Joint Operations In Syria (kathenon.com, 01.09.2016). Die linke türkische Zeitung Aydınlık (2.9.2016) berichtet unter Berufung auf die libanesische As-Safir sogar über ein bevorstehendes Treffen zwischen Erdogan und Assad in Moskau noch in der zweiten Septemberhälfte. Diese zeitliche Ansetzung scheint überaus optimistisch, auch wenn der Vorgang als solcher glaubhaft ist.

Jedenfalls kann, wie Putins Auftritt vor Journalisten in China deutlich macht, nicht die Rede von jenem Zerwürfnis sein, das uns derzeit einige Kommentatoren weismachen wollen, darunter Alexander Mercouris, dessen Artikel wohl eher dem Wunschdenken als der Realität entspricht, was bereits im Titel anklingt: … Russland schäumt über den türkischen Einfall in Syrien (vineyardsaker.de, 03.09.2016). Nach Mercouris “sollte der türkische Zug nach Syrien hinein ein für alle Mal die Idee begraben, dass die Türkei sich in einem Prozess einer geopolitischen Umorientierung fort vom Westen und hin zu den eurasischen Mächten befände.” Entgegen den dortigen Beteuerungen über eine schauerlich frostige Atmosphäre ist das Verhältnis zwischen den Präsidenten Russlands und der Türkei sogar als locker zu bezeichnen: so scherzte Putin bei seiner Zusammenkunft mit Erdogan am Rande des G20, als ihm der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan vorgestellt wurde: “Wenn Ihre Intelligenz da ist, brauchen wir nicht zu reden, dann sind Sie ja schon über alles informiert”. Wenige Tage nach Beginn der türkischen Militäroperation hob Moskau das Verbot von Charterflügen in die Türkei auf. Letzte Woche landete die erste Maschine mit russischen Passagieren im Flughafen von Antalya, wo sie vom Vizegouverneur der Provinz empfangen wurden; auf gleicher Rangstufe wurde übrigens auch der erste westliche Staatsbesuch nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch vom 15. Juli empfangen, nämlich US-Vizepräsident Joe Biden bei seiner Landung in Ankara.

Bedeutung für das Verhältnis Türkei-USA

Abgesehen davon, dass Erdogan auf keine formelle Zustimmung aus Moskau angewiesen ist und diese den Mangel einer formellen Zustimmung aus Damaskus auch nicht zu beseitigen vermöchte, scheint es auch höchst ungewiss, welchen innen- oder aussenpolitischen Gewinn die öffentliche Absegnung der türkischen Aktion durch den Kreml ihm eintragen sollte. Eine informelle Zustimmung, und formell geäussertes “Verständnis”, gepaart mit “Besorgnis”, tun vielleicht bessere Dienste, zumindest für den Moment. Man denke an einen politischen Nebeneffekt der türkischen Offensive in Nordsyrien: diese erhöht den Druck auf die USA, Farbe zu bekennen, ob sie nun ihren offiziellen NATO-Verbündeten Türkei, oder doch eher ihre Marionetten in Syrien zu unterstützen belieben. Auf beiden Hochzeiten zu tanzen wird nunmehr schwierig, wenn es zu grösseren Gefechten zwischen den türkischen Kräften und Washingtons Bodentruppen, namentlich den in Syrien operierenden PKK-Verbänden, kommt. Und bei diesem Bemühen der türkischen Seite, dem NATO-Partner USA die Maske herunterzureissen, wäre allzu viel Applaus aus Moskau zum “Euphrat-Schild” ja eher ein Bärendienst.

So wie die Verfechter des ptolemäischen Weltsystems zu Planetenbahnen mit Purzelbäumen greifen mussten, um die falschen Grundannahmen ihrer Theorie zu kompensieren, ist heute Washington zu epizyklischen Windungen gezwungen, um seine unhaltbaren Positionen zu verteidigen: darunter das fortgesetzte und wiederholte “new branding”, die ständige Änderung der Zusammensetzung und Umbenennung von Organisationen, deren terroristischer Charakter nicht länger geleugnet werden kann. So behauptet Washington, die von den USA unterstützten kurdischen Milizen der YPG hätten nichts mit der hochoffiziell geächteten PKK zu tun. Dann wiederum verspricht Washington, die kurdische YPG werde nicht nach Westen über den Fluss Euphrat hinausgreifen, lässt aber genau dies zu und behilft sich mit der Ausrede, der Vorstoss sei durch die “multiethnischen” SDF erfolgt. Diese Syrian Democratic Forces bestehen aber in ihrem Kern aus YPG-Verbänden.

Bedeutung für die Türkei

Politisch geht es für die Türkei um viel: sie will den imperialistisch-zionistischen Plänen zur ethnischen und religiösen Balkanisierung Westasiens einen Riegel schieben. Erdogan hat begriffen, dass die Zersplitterung Syriens das Vorspiel zum gleichen Schicksal für die Türkei selbst und für weitere Staaten, darunter Iran und dereinst Russland, bedeuten würde. Der Erhalt Syriens und dessen Wiederherstellung im vollen Umfang seines territorialen Bestands ist zugleich eine Lebensversicherung für die Türkei. Erdogan hat eingesehen, dass sich die Türkei für die Zusammenarbeit mit Eurasien öffnen muss, und scheint sich auch bewusst geworden zu sein, dass diese “tektonische” Bewegung auf die grössten Hindernisse und Minenfelder stossen wird, mit denen Feinde der Türkei versuchen, dem Lande den Weg in die selbstbestimmte Zukunft zu verlegen. Feinde? Die “frustrated old friends”, von denen die New York Times kurz vor dem Putschversuch sprach.[1]

Ob die Türkei in der Verteidigung ihrer Souveränität einschliesslich des Kampf gegen den Terrorismus langfristig Erfolg haben wird, hängt von verschiedenen inneren und äusseren Faktoren ab, besonders auch von der Autorität der Behörden und der Armee, die derzeit beide ein hohes Ansehen geniessen und das Volk hinter sich wissen, wenn sie dem Imperialismus die Stirne bieten. Darunter auch zwei spezielle (“innere”) Faktoren, die (als ausserhalb des Artikelthemas stehend) hier nur kurz berührt seien:

Zum einen die Frage nach der Stärkung der öffentlichen Kontrolle über den nationalen Produktivapparat, im Sinne der Schaffung von günstigen Bedingungen oder Reserven für den nationalen Kampf zur Zerschlagung des imperialistischen Jochs. Eine starke Nation braucht volkseigene Mittel und muss die demokratische Kontrolle der strategischen Wirtschaftssektoren anstreben. Durch umfangreiche Privatisierungen haben die AKP-Regierungen während Jahren systematisch den öffentlichen Sektor und damit auch die patriotischen Abwehrkräfte geschwächt. Eine Umkehr zeichnet sich nicht ab, gehört aber zu den Hauptforderungen der Arbeiterklasse und ihrer Patriotischen Partei, und wird zu ihrer Realisierung wohl eine andere als die AKP-Regierung notwendig machen.

Zum anderen die Frage nach der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion. Sowohl in der Türkei wie in Syrien hat sich die laizistische Tradition bewährt, welche die verschiedenen religiösen Bekenntnisse nebeneinander duldet und zur gegenseitigen Duldung anhält und die Glaubensangelegenheiten strikt aus der Politik verbannt. Die türkische AKP hat mit dieser Tradition gebrochen; sie bekennt sich offen zum politischen Islam und findet in der sunnitischen Geistlichkeit eine wichtige Machtstütze. Der Laizismus bietet bessere Gewähr für die Stabilität der Gesellschaft und vermindert auch dem äusseren Feinde die Angriffsflächen. Unter diesem Aspekt liegt die Hauptaufgabe darin, jede unnötige Kluft zwischen mehr oder weniger religiösen Kräften zu verhindern, und alle Türken über weltanschauliche und ethnische Grenzen hinweg in einer Front gegen den Imperialismus zu vereinen. Die weitgehend überparteilich und unter dem gemeinsamen nationalen Banner vorgetragenen, riesigen und wochenlang anhaltenden Konzentrationen der Volksmassen gegen den Juli-Putsch zeigen, dass dies möglich ist und spenden grösste Zuversicht, dass das türkische Volk diese Aufgabe meistern wird.

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1 “Turkish Leader Erdogan Making New Enemies and Frustrating Old Friends” (New York Times, 5. Juli). Siehe dazu: Zugeständnisse der westlichen Medien: … Erdogan frustriert Hoffnungen der USA

( 06.09.2016 / mh )


Siehe auch:


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