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Kontroverse zum Thema «China und Sozialismus»

Der kürzlich von uns publizierte Artikel von Rüdiger Rauls China und der Sozialismus hat eine Kontroverse ausgelöst. Wir veröffentlichen nachstehend die Reaktion unseres Lesers N.L. sowie anschliessend die Duplik von Rüdiger Rauls. N.L. scheint insbesondere der Bezug zum italienischen Philosophen Domenico Losurdo in Rage gebracht zu haben. Dazu müssen wir aller­dings anmerken, dass dieser Bezug in unserem Artikel-Vorspann von der Redaktion hergestellt worden war; Rüdiger Rauls hatte Losurdo im Artikel weder zitiert noch erwähnt. Da N.L. aber nur in der Einleitung auf Domenico Losurdo eingeht, im Übrigen sich aber inhaltlich mit Rauls’ Text befasst, wenden wir uns dieser Kontroverse zu. Sie dreht sich insbesondere um die Frage, wieweit in einem sich auf den Wissen­schaft­lichen Sozia­lismus berufenden System irgend­welche Spiel­arten von Privat­eigentum an Produktions­mitteln möglich sind. Oder umgekehrt: Kann ein System, das Produktions­mittel im Privat­eigentum – wenn auch in einem begrenzten Rahmen – zulässt, als ein «sozialistisches» bezeichnet werden.

Die Replik von N.L.

Die Mär vom «sozialistischen Charakter» des Rüdiger Rauls: Schützen wir den legendären italienischen Denker Losurdo vor Missbrauch!

Ihr ganzes Leben lang kämpften Engels und Marx gegen falsche Propheten des Sozialismus, gegen all die geräuschvollen Künder des «deutschen», «wahren», «Dühringschen», «Proudhonschen» usw. «Sozialismus».

Im unerbittlichen Kampf gegen diese unverbesserlichen Idealisten und Kleinbürger und ihre gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichteten «Theorien» entwickelten Marx und Engels auch den unvergänglich gewordenen Wissenschaftlichen Sozialismus, diesen zu jedem kleinbürgerlich-utopischen Sozalismus unversöhnlichen Gegensatz mit seinen unmissverständlichen und absolut klar formulierten Kriterien.

Privatbesitz an den Produktionsmitteln, zumal im grossen Stil wie gerade heute auch in China, kann niemals einer Gesellschaft «sozialistischen Charakter» verleihen – ausser man sei Sozialdemokrat, Selbstverwaltungs«sozialist» oder…, ja, in der Tat: oder man schütze mit faschistischem Terror jedes Privateigentum der «am meisten imperialistischen, am meisten chauvinistischen» Cliquen des Finanz- und Industriekapitals und nenne sich und eine ganze Arier-Bewegung dann auch noch … National«sozialismus»! Solle doch RüRau den Vorwurf weit von sich weisen, mit seinen hochdemagogischen Sophistereien könnte man problemlos auch bei den Nazis landen!

Sozialismus bedeutet ausnahmslos immer das Vorhandensein einer gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln gründet, die völlige Enteignung der wichtigsten Kapitalistengruppen zur Voraussetzung hat und damit die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet.

Doch ein Herr Rüdiger Rauls schickt sich nun an, mit gedanklichen Ergüssen zu China einen Sozialismus zu «entwickeln», der «das Privateigentum an Produktionsmitteln zulässt».

Damit nicht genug. RüRau versucht, «eurozentrischen Hochmut» all jenen unterzuschieben, die sich von ihm nicht belehren lassen, dass im China der herrschenden sozialimperialistischen Clique eben «dennoch» alles mit «sozialistischen» Dingen zu und her gehe: nämlich weil das Regime vorläufig darauf bestehe, in den privaten westlichen Unternehmen «Parteizellen einzurichten» (um der herrschenden Clique Bericht zu erstatten und Einfluss zu nehmen auf die Entscheidungen des ausländischen Unternehmens). Dies alles, schwärmt uns RüRau vor, bezeuge den «sozialistischen Charakter» der «neuen Machtverhältnisse» in China.

Doch in Wirklichkeit ist das ehemals sozialistische China längst zum Paradies für Millionäre und Milliardäre, für einheimische und ausländische Ausbeuter geworden. Wo ein paar Tausend oder Zehntausend die Eigentümer von sämtlichem gesellschaftlichem Kapitals sind, kann es für die Millionenmassen nichts mehr zu besitzen geben und leben diese notgedrungen als Mehrwertlieferanten in Lohnsklaverei.

RüRau hat zudem wohl nie etwas von den berühmten «vier Gruppen von Widersprüchen» gehört: die «Parteizellen» haben zwar nicht im Entferntesten etwas mit Sozialismus zu tun, aber sie sind ein anschauliches Beispiel für die zwischenimperialistischen Widersprüche und Feindseligkeiten unter Geschäftspartnern: der chinesischen Regierung inkl. sozalimperialistischem Parteiapparat einerseits und den ausländischen Kapitalisten andrerseits.

Dabei auch noch den Versuch zu unternehmen, den bedeutenden italienischen Denker Losurdo für sich zum Zeugen umzumodeln, das muss man schroff und als schändlich zurückzuweisen.
Dies wird dem unlängst verstorbenen Domenico Losurdo in keiner Weise gerecht.

Wenn sich im geschichtlichen Entwicklungsprozess allenfalls etwas verändert hat, dann dies, dass das heutige sozialimperialistische China gegenüber ausländischen Kapitalisten im Verhältnis zu früheren Jahrhunderten mächtiger und selbstbewusster geworden ist, als dies die kolonial beherrschten Länder vergangener Zeiten waren.

N.L.

Die Duplik von Rüdiger Rauls

Hallo Werter N. L.

Vorab ein Zitat: «Ihr ganzes Leben lang kämpften Engels und Marx gegen falsche Propheten des Sozialismus.» Das ist richtig, aber nur Nebensache. In erster Linie haben sie gegen den Kapitalismus gekämpft. Das aber scheint gerade unter Linken immer mehr in den Hintergrund zu treten. Da bekämpft man sich anscheinend lieber untereinander, vermutlich weil es zu mehr nicht reicht, so unbedeutend wie die Linke im Westen ist. Kein Wunder: Wer will sich denn mit Leuten abgeben, die sich untereinander bis aufs Messer bekämpfen? Da wendet sich doch jeder vernünftige Proletarier lieber den angenehmen Seiten des Lebens zu. Zu Recht!

Weshalb der giftige Ton? Worum geht es denn? Rechthaberei oder Erkenntnis? Wie ich schon in meinem Text sagte, die Welt verändert sich, und wir müssen diese Veränderungen deuten. Das ist historischer Materialismus. Aber einige Linke scheinen diesen Begriff als Traditionspflege zu verstehen. Die Erkenntnisse der Väter des Sozialismus sind keine Dogmen und keine Heiligtümer. Sie selbst waren doch gerade solche, die alles in Frage stellten, um die Wirklichkeit zu erkennen. Marx und all die anderen haben Erkenntnisse vermittelt auf der Basis des damaligen Wissens und der damaligen Verhältnisse. Das heißt aber auch, dass sie vieles von dem, was sich heute in der Welt offenbart, noch gar nicht wissen konnten. Da liegen immerhin über 100 Jahre dazwischen, in denen die Welt sich gewaltig verändert hat. Die Werke der Klassiker sind nicht dazu da, um sich gegenseitig Zitate um die Ohren zu hauen. Sie sind zum einen dazu da, Ähnlichkeiten zu erkennen und aus den Schlüssen, die die Klassiker damals daraus gezogen haben, Ableitungen zu finden für die heutigen Verhältnisse. Und sie sind ein hervorragendes Lehrmaterial für die Anwendung der dialektischen Methode inform von historischem und dialektischem Materialismus. Aber gerade zu diesem historischen Materialismus gehört es, Veränderungen zu erkennen und zu deuten. Historischer Materialismus bedeutet doch gerade nicht, an den Lehren von Marx ua buchstabengetreu und bibelfest festzuhalten, sondern sie anzuwenden auf sich verändernde Bedingungen. Man kann das natürlich so machen, nur darf man sich dann nicht wundern, wenn die Linke nicht mehr verstanden und nicht mehr ernst genommen wird. Mit Marx-Zitaten um sich zu werfen, heißt noch lange nicht, ihn verstanden zu haben, und schon gar nicht, wenn man damit Rechthaberei betreibt. Das ist Marxens unwürdig und wäre sicherlich von ihm auch niemals gutgeheißen worden.

Zweitens: Was haben die Linken eigentlich immer gegen Reichtum und Wohlstand? Für Sie wie für so manche andere, die meinen Artikel kritisieren, scheint das das Ausschlaggebende zu sein: In China gibt es Milliardäre und die sind mit Sozialismus unvereinbar. Warum? Reichtum ist nicht schlecht. Wozu soll denn Armut gut sein? Und dieser westliche naive Kloster-Sozialismus, dass alle alles miteinander teilen, war ja nie der Gedanke der Urväter. Die Westler können sich solchen Fantasien und Fantastereien hingeben, denn sie kennen doch keine Armut. Wer von uns nach dem Krieg Geborenen hat denn noch Armut kennen gelernt? Wir haben doch alles, den meisten von uns fehlt es an nichts, besonders von jenen, die sich als Linke bezeichnen. Da hat man gut reden über Bescheidenheit und das Glück der einfachen Verhältnisse. China hat seit der Öffnung mehrere Hundert Millionen Menschen aus der Armut geholt. Und das war Armut, nicht das, was wir hier im Westen für Armut halten. Das war bittere Armut wie auch in Russland, Armut die wir alle nicht mehr kennen und wofür wir dankbar sein sollten, anstatt sie als etwas Folkoristisches darzustellen.

Sozialismus ist ja für die meisten Linken hier im Westen nur so etwas Folkloristisches, eine Theorie, eine Weltanschauung, etwas Geistiges. Aber der Sinn des Sozialismus ist doch nicht eine tolle Theorie zu haben, mit der man sich von anderen abheben kann. Die meisten Linken im Westen haben längst vergessen, dass Sozialismus eine Gesellschaftsordnung ist, die die Lebensverhältnisse der arbeitenden Menschen verbessern will. Es geht um Wohlstand, um ein besseres Leben, eine bessere und freundliche Zukunft für unsere Kinder und die nachfolgenden Generationen. Dafür haben diejenigen ihr Leben aufs Spiel gesetzt, die in Russland und China, in Kuba und Vietnam, in Korea und einigen Ländern Afrikas für den Sozialismus kämpften. Da ging es um bessere Lebensbedingungen, um ein besseres Leben, nicht um eine Lehre. Das ist Ziel des Sozialismus, nicht die theoretische Rechthaberei. Aber es war ihnen auch bewusst, zumindest den Kommunisten, dass diese Verbesserung der Lebensverhältnisse nicht erreicht werden kann, wenn die an der politischen Macht bleiben, die die schlechten Lebensverhältnisse verschuldet hatten, die Besitzer der Produktionsmittel als KLASSE, nicht als einzelne Personen. Kapitalbesitzer ohne politische Macht sind keine herrschende Klasse mehr. Das waren sie nicht unter dem Feudalismus und sind es auch nicht mehr unter dem Sozialismus. Entscheidend ist nicht ihr Einkommen, sondern ihre Macht als politische Klasse.

Die Völker in China und Vietnam sind nun so weit, dass sie die Früchte dieses Kampfes ernten können. Sollen sie das nicht, nur weil einige westliche Intellektuelle und Salon-Revoluzzer ideologische Bedenken haben? Ich denke, dass die Menschen dieser Völker eher wissen als wir, was sie an dem sozialistischen System haben. Sie haben dafür große Opfer gebracht, die sie sich mit sicherheit nicht so leicht werden aus der Hand nehmen lassen. Und mit Sicherheit wissen sie das besser als linke Theoretiker und Besserwisser hier bei ums im Westen.

Und wenn die Chinesen dabei das Kapital des Westens nutzen, warum denn nicht? Sie nutzen deren Kapital, sie lassen sich aber nicht vorschreiben, wie sie ihr Land und ihre Gesellschaft zu entwickeln haben. Dafür sind die Arbeiter in den Betrieben wichtig als Zellen, damit dort Kontrolle herrscht. Aber das hat ja für den westlichen Intellektuellen keine Bedeutung. Denn der westliche Intellektuelle glaubt, dass eigentlich er derjenige ist, der dazu am besten in der Lage wäre, nicht irgendwelche Arbeiter, die er in seinem Innersten trotz aller sozialistischen Träume doch für ungebildet hält. Aber das gesteht er sich nicht ein.

Rüdiger Rauls