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In Jerusalem wie der Westbank finden derzeit grosse Demonstrationen gegen die israelische Besatzungsmacht statt. Vielleicht entsteht dadurch eine neue Intifada. Sie könnte auf das 1948 besetzte Gebiet übergreifen und Israel eine neue Krise bescheren.

Vertreibung und Enteignungspolitik sind für Palästinenser nichts Neues

Die Vertreibung palästinensischer Familien vom eigenen Grund und Boden ist nichts Neues. Das hat seit der Naqba Kontinuität. Daran erinnert der Gewährsmann aus Gaza im folgenden Interview, das wir dem GAZA-INFO entnommen haben. Er zeigt die Hintergründe des aktuellen Konflikts auf, die in der hiesigen Medienberichterstattung tunlichst verschwiegen werden. Die Nachrichten der Medien konzentrieren sich auf den «Raketen»-Beschuss aus dem Gaza-Streifen, der in der Regel keinen Schaden verursacht. Im Gespräch werden auch die Zusammenhänge mit der grossen Krise des zionistischen Staates und dessen fortdauernden Aggressionen gegen Syrien eingeordnet.

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→ Ein weiteres Interview mit dem gleichen Gewährsmann über die aktuelle Situation in Gaza

Manchmal überschlagen sich die Ereignisse schneller als ein Transkript geschrieben werden kann. Das Interview mit dem Freund im Gazastreifen wurde bereits am historisch denkwürdigen 8. Mai geführt, als der mittlerweile eskalierte Konflikt noch am Köcheln war; als die Besatzungsarmee die Menschen vor der Al-Aqsa-Moschee schikanierte und die Siedlerbanden noch dachten, sie könnten am sogenannten Jerusalemtag wie bisher durch die arabischen Viertel ziehen und die PalästinserInnen terrorisieren. Dieses Info erzählt also die unmittelbare Vorgeschichte des aktuellen Konflikts.

G-I: Wie beurteilst du nach den Provokationen der israelischen Armee vor der Al Aqsa Moschee die Versuche von faschistischen Siedlern, sich mit Hilfe der israelischen Armee weitere palästinensische Häuser in Ostjerusalem anzueignen?

Was heute in Jerusalem passiert und auf der internationalen Tagesordnung Aufmerksamkeit findet, besonders im Sheikh Jarrah-Bezirk, wo die israelischen Siedlerbanden mit Unterstützung der israelischen Armee versuchen, die BewohnerInnen aus ihren Wohnungen und Häusern rauszuschmeissen, damit diese Häuser und Wohnungen an die Siedler weitergegeben werden: wie bekannt ist, handelt es sich um einen kleinen Bezirk, betroffen sind 28 Familien, die dort seit vielen Jahrzehnten leben, insgesamt 500 Personen. Die Siedler sind mit gefälschten Papieren zum Gerichtshof in Jerusalem gegangen und behaupten, dass ihnen die BewohnerInnen den Boden und die Häuser verkauft hätten oder sie ihren Verwandten gehrt hätten und sie ihnen durch ein Gesetz aus den 1970er Jahren zustehen würden.

Im Gegenteil haben aber die Bewohnerinnen und Bewohner Verträge mit der jordanischen Regierung von 1956 abgeschlossen, denn nach der Naqba von 1948 stand die Westbank und Ostjerusalem unter jordanischer Verwaltung bis zum neuen Krieg 1967, als auch diese Gebiete unter israelische Besatzung gerieten.

Diese Vertreibung und Enteignungspolitik ist nichts Neues. Man weiss, wie 1948 Städte und Dörfer von der israelischen Besatzungsmacht besetzt und die EinwohnerInnen vertrieben oder getötet wurden, durch Massaker wie in Lod, Kufr Kassem, Deir Yassin, und viele andere. Schon damals wurden die Leute aus ihren Häusern rausgeschmissen, man hat ihr Eigentum geklaut, und enteignet, wie Fabriken, Firmen, Häuser, Landwirtschaft und alles an die Siedler übergeben. Dadurch wurden Siedlungen und Kibbuzims errichtet und das hat den Israelis ihre Landwirtschaft ermöglicht, aufgrund der sogenannten israelischen Transferpolitik.

vor dem Bundeshaus

«Gas the Arabs! JDL» Graffiti in Hebron, 2008. (Magne Hagesæter, CC BY 3.0, Wikimedia Commons)

Israel hat diese Politik nach 1967 weitergeführt, nachdem es Gaza, Westbank und Ostjerusalem besetzte und tausende Dunums für ihre Landwirtschaft beschlagnahmte. Darauf wurden die zionistischen Siedlungen errichtet. Heutzutage befinden sich Dutzende Siedlungen in der Westbank so wie auch in Jerusalem, nach internationalem Recht alle illegal errichtet. Die Zahl der Kolonialisten ist von den 100 000 Siedlern (30 Siedlungen), die es vor dem Oslo-Abkommen waren, angestiegen auf eine Zahl zwischen 650 000 und 700 000 Siedler in mehr als 100 Siedlungen.

Diese Siedlungen und Gemeinden haben unterschiedliche Grössen – manche sind so gross wie eine Stadt, wie etwa die Ariel-Siedlung in der Nähe von Ramallah, die grösste in der Westbank. Mit Banken, Fabriken, Firmen und einer Universitäten mit 20 000 Siedlern. Aber es gibt auch kleine Siedlungen mit nicht mehr als 20 Personen. Aber sie beanspruchen die gesamte Landwirtschaft und tausende Höfe, die von palästinensischen Familien beschlagnahmt wurden, für sich. Und diese Beschlagnahmungs- und Transferpolitik steht auf der Tagesordnung der Besatzung von Westbank und Jerusalem. Und alle Kommentare und Aussagen von UNO-Vertretungen und Sprechenden der EU und anderen Vertreterungen westlicher Regierungen, über Lösungen für diese Missstände wie etwa in Ostjerusalem: Das sind nichts als leere Worte und Lügen. Alle wissen, was Israel macht, dass es gegen alle internationalen Gesetze und UN-Chartas verstösst. Es müsste wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden. Doch in der Realität unterstützen sie die israelische Apartheid. Denn ohne die Unterstützung der westlichen Regierungen, politisch und materiell und auch militärisch, könnte Israel nicht existieren. Israel ist ihr Stützpunkt und Projekt im arabischen Raum, um ihren Interessen zu dienen. Israel ist der Wachhund der imperialistischen Mächte. Das palästinensische Volk wird bei dieser rassistischen und faschistischen Politik und der Vertreibung der Bewohner nicht tatenlos zuschauen. Palästinenserinnen und Palästinenser sind stark und haben den Mut und die Kraft, um gegen diese israelische Politik standhaft zu bleiben und die Zionisierung Jerusalems zu bekämpfen. Und alle diese Massnahmen können das palästinensische Volk nicht stoppen oder demoralisieren, weil es für seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft. Bis es in Freiheit und Würde in seinem unabhängigen Staat leben wird.

G-I: Eine Frage, die du nicht das erste Mal gestellt bekommst: Wie beurteilst du die neuerlichen Aggressionen Israels gegen seine arabischen oder iranischen Nachbarn, insbesondere die Angriffe auf Syrien?

Die zionistischen Angriffe in Syrien, die wöchentlich oder fast täglich erfolgen, gegen strategische und militärische wie institutionelle oder zivile Einrichtungen, können als Flucht nach vorne bezeichnet werden. D. h. diese Angriffe können die Situation in Syrien nicht ändern. Israel führt diese Angriffe durch, um vor seinen eigenen Problemen zu flüchten. Seit langem befindet sich das zionistische Gebilde in einer tiefen Krise. Innen- wie aussenpolitisch. Seit 2 Jahren gibt es eine innenpolitische Krise in Israel, wo gerade die vierten Wahlen durchgeführt wurden und es noch immer keine stabile Regierung gibt. Netanyahu und seine Administration versuchen, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung abzulenken.

Netanyahu steht wegen Korruption vor Gericht und mag sich nicht von der politischen Bühne verabschieden, sonst kommt er in den Knast. Deshalb bombardiert er lieber Syrien, um die israelische Bevölkerung zu beschäftigen statt zu sitzen. Seine Argumente, er würde iranische Truppen angreifen, sind auch lächerlich, jeder weiss, dass er die syrischen Streitkräfte bombardiert, Vom Iran sind höchstens Berater in Syrien. Diese Aggressionen werden die Strategie der syrischen Armee und ihrer Verbündeten nicht ändern: nämlich die terroristischen Banden zu vertreiben, egal ob es jetzt die Nusra-Front oder Daesh oder sonst eine vom Westen unterstützte Organisation ist. Auch die Armeen und Verbündeten im Norden Syriens müssen vertrieben werden, es geht auch um die Bekämpfung der türkischen Armeeangehörigen und ihrer Söldner, wie auch darum, die USA und ihre Komplizen rauszuschmeissen, um die Ölfelder zu befreien.

Israels aussenpolitische Krise zeigte sich auch darin, dass der Iran trotz dem Ausstieg der USA aus dem Atomvertrag, den die Trump Regierung auf Druck Israels und der reaktionären Golfstaaten beschlossen hat, weiter an den internationalen Verhandlungen teilnimmt. Diese neuen Treffen mit dem Iran zeigen, dass die Forderungen von Israel, den USA und Europa gescheitert sind und die Wirtschaftsinteressen doch grösser waren als die transatlantische Loyalität, denn viele europäische Firmen und Regierungen wollen sich an den Ölgeschäften bereichern.

Israel fordert dagegen, dass die Sanktionen und der Boykott des Irans weitergehen, bis der Iran sein Atomprogramm abgeschafft und die iranischen Waffen, die eine gewisse Richtweite überschreiten, zerstört sind. Israel versucht auch, den Einfluss des Irans auf Palästina und andere arabische Länder einzudämmen. Der Iran soll den arabischen Widerstand nicht mehr unterstützen,weder politisch, noch finanziell, noch militärisch. Also, verlangt wird ein Ende jeder Unterstützung für den Irak, Palästina oder die syrisch-arabische Armee.

Wie gesagt, versucht Israel eine Ablenkungspolitik zu betreiben, manchmal durch politische Erklärungen, manchmal durch Besuche in europäischen Hauptstädten und den USA, manchmal durch Angriffe auf Syrien und den Gazastreifen oder gegen den Irak und die Widerstandsorganisationen. Manchmal durch Cyberattacken wie bei dem Angriff auf die iranischen Atomanlagen, manchmal durch Minen gegen iranische Handelsschiffe im Mittelmeer. Gegen Schiffe, die Öl nach Europa transportieren wollten und bei Shatt Al-Arab oder im Roten Meer mit Minen beschädigt wurden. Oder durch Liquidierungen von politischen oder militärischen Persönlichkeiten oder von Wissenschaftlern. So ist es mit iranischen Atomwissenschaftlern passiert. Aber diese mörderische Politik wird Israel nicht von seinen politischen, wirtschaftlichen, Gesundheits- und Sicherheitsproblemen erlösen, sondern nur vorübergehend davon ablenken.

Solidemo der PFLP in Rafah für die betroffenen Familien in Sheikh Jarrah

Ein weiteres innenpolitisches Problem Israels ist Corona. Nachdem die Todeszahlen, die Infizierten im Ansteigen waren und tausende Israelis gestorben sind und Lockdowns eingeführt wurden, nahm die israelische Wirtschaft grossen Schaden. Firmen, Flughäfen usw. wurden lahmgelegt, viele Millionen US-Dollar in den Sand gesetzt. Auch die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, das bedeutet, es gibt auch viele Millionen Arbeitslosenunterstützung zu zahlen.

Und wegen der Produktionseinbussen gingen viele Betriebe kaputt. Wegen Corona wurde viel Geld in die Krankenhäuser gepumpt, um die medizinische Notversorgung aufrecht zu erhalten, Medikamente und Sauerstoff, Geld für die Impfungen, wo sich Israel ja als Vorzeigeland präsentieren möchte, usw. Auch andere Probleme bestehen innerhalb Israels, wie der steigende Rassismus und das Anwachsen der faschistischen Organisationen. Den grössten Rassismus gibt es natürlich gegenüber jenen Teilen der palästinensischen Gesellschaft, die nach 1948 in Israel verblieben sind. Die ultarechte israelische Lehava-Partei ist von allen faschistischen Organisationen die bekannteste, sie steht dem Gedankengut von Meir Kahane nahe. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Die faschistischen Parteien koalieren mit der rechten Likudpartei und Netanyahu. Diese Parteien treten gegen jede Gleichberechtigung auf und veranstalten ihre rassistischen Aktivitäten in Städten wie Haifa und Tel Aviv, es gibt dort Anschläge auf die PalästinenserInnen durch fanatische Siedlerbanden.

Auch steht Netanyahu heute im Konflikt mit der Abbas-Regierung, und trotz dessen Kollaboration zeigt sich in wichtigen Fragen kein Licht am Ende des Tunnels. Nach dem Vorstoss Trumps mit Jerusalem als ewiger Hauptstadt des zionistischen Gebildes gibt es keine Lösung des palästinensisch-arabischen Konflikts. Auch deshalb versucht die israelische Regierung, neue Realitäten zu schaffen, durch die Erweiterung von alten oder Gründung von neuen Siedlungen, in Jerusalem und der Westbank. Und das löst wiederum eine Reaktion der palästinensischen Behörde und der Sicherheitskräfte aus.
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→ Ein weiteres Interview mit dem gleichen Gewährsmann über die aktuelle Situation in Gaza
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→ Siehe auch Seitenspalte: Polizeirepression gegen Palästina-Solidarität