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Im Tessin kommt ein Mindestlohn aufs Tapet: Linke Initiative will Fehler der Grünen ausbügeln

sinistra. Im Tessin konnte die Sozialdemokratische Partei (SP) kürzlich den Erfolg der Volksinitiative «Für einen sozialen Mindestlohn» bekanntgeben: Für die vorgeschlagene Verfassungsänderung konnten mehr als 13 000 Unterschriften gesammelt werden, weit mehr als die erforderlichen 10 000. Dies ist ein äusserst wichtiges Ergebnis, das die breite Unterstützung für den Text zeigt, der nun dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden muss. Die Initiative wurde neben der SP, auch von der Kommunistischen Partei (KP), dem POP (Tessiner Sektion der PdA) und den Grünen lanciert. Das Mitmachen der Letzteren hatte jedoch im progressiven Lager des Kantons Tessin einige Bedenken ausgelöst. Grund war deren vor einigen Jahren lancierte Initiative «Retten wir die Arbeitsplätze im Tessin», die von der Gewerkschaft Unia sowie der KP schon damals kritisiert wurde.

Beim Hauptziel der neuen Intitiative geht es nämlich darum, die schwerwiegenden Mängel der von den Tessiner Grünen im April 2013 lancierten Initiative «Retten wir die Arbeit im Tessin» zu beheben. Diese Vorlage, die im Juni 2015 von 54,7% der Tessiner Stimmberechtigten angenommen wurde, hatte bereits bei der Unterschriftensammlung eine heftige Kontroverse ausgelöst. Zeitgleich mit der nationalen Volksinitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) für einen Mindestlohn von 4000 Franken pro Monat hatte die kantonale Initiative der Grünen einen nach Branchen und Berufen differenzierten Mindestlohn vorgeschlagen, der von der Regierung in Höhe eines Prozentsatzes des Medianlohns festgelegt werden kann.

Die Unbestimmtheit des von den Grünen vorgeschlagenen Verfassungstextes hatte bei der übrigen Tessiner Linken, die nicht an der Ausarbeitung der Initiative beteiligt war, seinerzeit heftige Kritik hervorgerufen. Alessandro Lucchini, stellvertretender Sekretär der Kommunistischen Partei, hatte sich kritisch zum Vorschlag der Grünen geäussert, den er als «zweideutig und kontraproduktiv für die Tessiner Arbeiterklasse» bezeichnete (hier lesen). Neben der Zuständigkeit der Regierung für die Festlegung des Mindestlohns, die eine negative «Verankerung» höherer Löhne zur Folge haben könnte, wies der kommunistische Ökonom auf die Gefahr hin, dass der Mindestlohn nur in Sektoren angewandt wird, die nicht durch Gesamtarbeitsverträge abgedeckt sind: Die Schaffung neuer Kollektivverträge nur mit dem Ziel, für den Geltungsbereich die kantonale Mindestregelung auszuhebeln, würde die Initiative nutzlos machen». Lucchini wies auf die verdächtige Begleitmusik zur SGB-Initiative hin und stellte die Hypothese auf, dass es sich dabei um einen «politischen Marketing-Schachzug handelt, um die Kluft zur übrigen Linken zu vertiefen, entsprechend dem von der Parteiführung gewünschten strategischen Ansatz». Eine Strategie, die nach Ansicht des stellvertretenden Sekretärs der KP auf lange Sicht sicherlich nicht «den Aufbau einer für soziale und ökologische Fragen sensiblen Kultur» begünstigt hätte.

Der kommunistische Wirtschaftswissenschafter Alessandro Lucchini hatte seinerzeit vor den Mängeln der Initiative gewarnt.

Doch nicht nur die Kommunistische Partei wies auf die kritischen Aspekte der Ökolo-Initiative hin: Kurz vor der Volksabstimmung veröffentlichte der Leiter von «Area» (von der Gewerkschaft UNIA herausgegebene Zeitschrift), Claudio Carrer, einen Leitartikel mit dem bezeichnenden Titel «So lässt sich die Arbeit nicht retten», in dem er den Text der Grünen als «völlig unzureichendes Instrument zur Bekämpfung von Lohndumping» bezeichnete. Laut Carrer hätte sie sogar «dieses im Tessin bereits weit verbreitete Phänomen fördern können»: Die Initiative hätte «den Weg für das Konzept der Würde mit variabler Geometrie geebnet und die Spaltung zwischen den Arbeitnehmern weiter vertieft». Die Tessiner Sektion des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes veröffentlichte kurz nach der Volksabstimmung, bei der sie sich bezeichnenderweise eher schweigend verhalten hatte, einen Bericht zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, in dem sie die Initiative zwar als «kleinen Schritt in die richtige Richtung» anerkannte, aber vor leichtfertiger Begeisterung warnte: Sie würde das Problem des Lohndumpings nicht lösen, so der SGB Tessin (hier lesen). Anderseits wurde die Initiative bezeichnenderweise sogar von der Jungen SVP unterstützt, und der Präsident der Handelskammer Franco Ambrosetti hatte erklärt, er habe sie unterschrieben.

Eine neue Initiative korrigiert die politischen Fehler der Grünen

Wie man so schön sagt, der Rest ist Geschichte: Die von den Kommunisten und den Gewerkschaften kritisierten Punkte wurden denn auch tatsächlich umgesetzt. Im parlamentarischen Tauziehen um die «Bandbreiten», innerhalb derer der Staatsrat den Mindestlohn hätte festlegen müssen, hat sich die von der bürgerlichen Rechten vorgeschlagene Version durchgesetzt, mit anfänglichen Schwellenwerten zwischen Fr. 19.– und 19.50 pro Stunde (was weniger als 3000 Franken netto pro Monat für einen Vollzeitbeschäftigten entspricht), die bis 2025 schrittweise erhöht werden sollen, wenn die definitiven Schwellenwerte zwischen Fr. 19.75 und 20.25 pro Stunde in Kraft treten sollen. Ein sehr niedriger Mindestlohn also, mit dem man im Tessin kein anständiges Leben führen kann. Und er löst vor allem das Problem des Lohndumpings nicht. Ausserdem ermöglicht er es unterbezahlten Arbeitnehmern nicht, aus der Sozialhilfespirale, in der sie sich befinden, herauszukommen. All dies ist natürlich zum Vorteil der Arbeitgeber, die weiterhin Grenzgänger zu lächerlichen Löhnen beschäftigen und die sozialen Kosten ihres Geschäftsmodells mit geringer Wertschöpfung auf die Gemeinschaft abwälzen können.

Damit nicht genug, haben sich einige Unternehmen mit der Lega-nahen Pseudo-Gewerkschaft TiSin darauf geeinigt, Tarifverträge mit Löhnen unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns (ab Fr. 16.– pro Stunde) abzuschliessen und dabei die Klausel zu nutzen, die die vom GAV erfassten Sektoren vom Mindestlohn ausnimmt. Es lohnt sich jedoch, daran zu erinnern, dass diese Praxis bereits vor der Gründung von TiSin bestand: Bereits 2019 prangerte die UNIA den Abschluss weiterer Gesamtarbeitsverträge mit Löhnen unter dem Mindestlohn in der Reinigungsbranche und im Detailhandel an, die bei Fr. 16.75 pro Stunde lagen (siehe hier). Dank der bereitwilligen Kooperation der christlichsozialen Arbeitnehmer-Organisation OCST und dann TiSin hatten die Bosse so eine Möglichkeit, den Mindestlohn zu umgehen und ihre Praktiken der Ausbeutung, der Prekarität und des Lohndumpings fortzuführen. Eine Praxis, die, wie bereits erwähnt, von der grünen Volksinitiative von 2015 ausdrücklich vorgesehen war.

Der von der christlichen OCST im Reinigungsgewerbe unterzeichnete GAV sieht Löhne vor, die unter dem Mindestlohn liegen.

Deshalb ist es notwendig einzugreifen, um die politischen Fehler zu korrigieren, die die Grünen (hoffentlich in gutem Glauben) mit ihrer Initiative «Rettet die Arbeit im Tessin» begangen haben. In Anbetracht des äusserst ungünstigen Kräfteverhältnisses im Parlament haben folglich SP, KP, POP und Grüne beschlossen, sich erneut an das Volk zu wenden und eine neue Initiative zur Aufhebung der bestehenden Ausnahmeregelung für die unter die Klimaänderungsabgabe fallenden Sektoren und zur Einführung eines «sozialen» (und nicht mehr nur «anständigen») Mindestlohns zu starten; dieser soll nicht mehr auf einem politischen Kompromiss, sondern auf den von der Sozialhilfe festgelegten Schwellenwerten beruhen. Kurz gesagt: Ein Arbeitnehmer sollte nicht weniger verdienen als das, was der Staat in Form von Sozialhilfe an arme Menschen zahlt. Je nach den gewählten Parametern dürfte dies einem Mindeststundenlohn von Fr. 21.50 bis Fr. 22.– entsprechen, was bei einer Vollzeitstelle 3900 bis 4000 Franken brutto pro Monat entspricht. Dies ist genau das, was die abgelehnte SGB-Initiative von 2014 gefordert hatte.

Ist die Linke sich einig über den sozialen Mindestlohn? Nicht ganz …

Wie wir eingangs berichteten, ist die betreffende Initiative nun amtlich beglaubigt erfolgreich, da in etwas mehr als zwei Monaten über 13 000 Unterschriften gesammelt wurden. Dies ist ein sehr wichtiges Ergebnis für die Tessiner Linke, die in letzter Zeit einige Schwierigkeiten hatte mit dem Ergreifen der Instrumente der direkten Demokratie: Wir erinnern uns zum Beispiel daran, dass 2019 das Referendum gegen die vom Grossen Rat beschlossenen neuen Steuersenkungen gescheitert ist, es wurden in der Frist nur 6200 der 7000 erforderlichen Unterschriften gesammelt. Neben dem Erfolg der Mindestlohninitiative scheiterte in diesem Winter auch das von der Gewerkschaft VPOD lancierte Referendum gegen die Sanierung der Kantonsfinanzen durch Kürzung der öffentlichen Ausgaben (mit über 10 000 Unterschriften).

Der grosse Erfolg der Initiative für einen sozialen Mindestlohn könnte auf den ersten Blick auf die Geschlossenheit der progressiven Front zurückgeführt werden, die sie lanciert hat: Anders als 2013, als die Grünen «alleine» antraten, wurde diejetzige Volksinitiative – die von allen Kräften, die das Unterstützungskomitee bilden, ausgearbeitet und beschlossen wurde – von fast allen linken Parteien im Tessin überzeugend unterstützt. Sind Sie also überzeugt? Wie es den Anschein macht nicht wirklich: Abgesehen von der extremistischen Position des Forum Alternativo von Franco Cavalli und des Movimento per il Socialismo (MPS) von Pino Sergi (die den Text boykottierten, weil sie ihn für zu moderat hielten, ohne jedoch zu bedenken, dass es im derzeitigen Rechtsrahmen unmöglich ist, weiter zu gehen), waren in den letzten Monaten viele sozialdemokratische und kommunistische Aktivisten auf der Strasse, aber sehr wenige Grüne. Wir wissen nicht, wie hoch ihr Anteil an den 13 000 gesammelten Unterschriften ist, aber angesichts ihrer geringen Präsenz vor Ort können wir davon ausgehen, dass er nicht besonders auffällig war. Es bleibt die Frage nach dem Grund für diesen begrenzten Beitrag: organisatorische Beschränkungen oder politische Motivation?

Die grüne Nationalrätin Greta Gysin ist seit September 2020 Präsidentin von Transfair.

Es ist nicht auszuschliessen, dass die Grünen, da es sich um eine Initiative handelt, die darauf abzielt, ihre Fehler aus der Vergangenheit zu korrigieren, sich in einer so heiklen Frage nicht exponieren wollten. Die wichtige Rolle der grünen Nationalrätin Greta Gysin in der Gewerkschaft Transfair, deren Co-Präsidentin sie seit September 2020 ist, könnte ebenfalls eine Rolle gespielt haben: Transfair ist eine «gelbe» Gewerkschaft, deren Verhandlungspraktiken denen von OCST ähneln, und deren regionale Vorsitzende Nadia Ghisolfi (Grossrätin der CVP) einen Sturm der empörung heraufbeschworen hat, weil sie mit der Geschäftsführung des Zustelldienstes DPD einig geht, die vor kurzem vier Zusteller entlassen hat, die Gewerkschaftsaktivisten sind. Wie das Arbeiterkollektiv kürzlich auf den Seiten von «LaRegione» in Erinnerung rief, «gibt es bei DPD immer noch diejenigen, die sich daran erinnern, dass, als Transfair den inzwischen ausgelaufenen GAV unterzeichnete, unter anderem ohne die betroffenen Arbeitnehmer daran zu beteiligen, das Ergebnis darin bestand, die vom Unternehmen bezahlten Ferien um eine Woche zu kürzen» (hier mehr dazu). Unter den Alliierten, die die Abwesenheit der Grünen beim Solidaritätspräsidium mit den DPD-Beschäftigten und bei der Unterschriftensammlung für den sozialen Mindestlohn bemerkten, gibt es bereits diejenigen, die vom «Transfair-Effekt» sprechen … Wie der Erfolg der Initiative zeigt, der trotz der Abwesenheit der Grünen erzielt wurde, kann mit einem Sprichwort gesagt werden: «Jeder ist nützlich, aber niemand ist unentbehrlich».
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Der Text wurde am 3. Februar 2022 erstmals auf sinistra.ch veröffentlicht. Übersetzt mit Hilfe von www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)