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Neutralität ist der Pfeiler, auf dem eine paktfreie, souveräne und multipolare Schweiz aufgebaut werden kann

Von den Genossen Maximilian Ay und Levi Morosi vorgelegte und von der Konferenz der Kommunistischen Partei in Balerna am 15. Oktober 2022 einstimmig angenommene Entschliessung.

1. Einleitung – «Liberi e Svizzeri!» war das Motto der antifaschistischen Freiwilligen, die 1936 unser Land in Richtung Spanien verliessen, um die Republik zu verteidigen und den Franquismus zu bekämpfen. Dieses Motto sollte zeigen, wie der Neutralitätsgrundsatz als Synonym für die nationale Souveränität gegenüber dem Druck verstanden werden sollte, der damals von den Nachbarländern ausging, die in die Fänge des Faschismus geraten waren. Neutralität verstanden, kurz gesagt, als der Wille, die politische Unabhängigkeit unseres Landes zu garantieren.

2. Unsere Partei – Zwar hat sich unsere Partei bei ihrer Gründung 1944 für die Aufgabe der Neutralität ausgesprochen, doch war dieser Vorschlag ausschliesslich an den sofortigen Beitritt der Eidgenossenschaft zur Organisation der Vereinten Nationen (UNO) gebunden, d. h. im Hinblick auf eine globale Friedenspolitik. In jenen Jahren und bis zum Ende des Kalten Krieges (genauer gesagt bis 2002) lehnte ein beträchtlicher Teil des Schweizer Bürgertums die UNO-Mitgliedschaft wegen eines angeblichen Konflikts mit der Neutralität ab: In Wirklichkeit fürchtete man das Übergewicht sozialistischer Länder und ehemaliger Kolonien, die mit den Kommunisten sympathisierten, zumindest in der UNO-Generalversammlung. In den folgenden Jahren, als sich der Kalte Krieg zwischen dem kapitalistischen Block im Westen und dem sozialistischen Block im Osten verschärfte, vertrat unsere Partei eine völlig andere Linie und erkannte, dass nur die Neutralität dafür sorgte, dass unser Land nicht völlig an das atlantische Lager gebunden war. Die Schweizer Kommunisten waren unnachgiebige Patrioten: Sie setzten sich nicht nur gegen Stalin für die Neutralität ein, sondern gingen sogar so weit, mit dem Genossen Léon Nicole einen charismatischen Führer aus der Partei auszuschliessen, der für eine Annäherung an den damaligen Warschauer Pakt eintrat.

3. Die Widersprüche der Neutralität – Wir sind uns bewusst, dass die Bourgeoisie hinter dem Wort «Neutralität» die Kollaboration mit dem Apartheidregime in Südafrika und heute mit dem Zionismus in Israel verbirgt. Wir wissen auch, dass der Bund während der gesamten Dauer des Kalten Krieges einige inoffiziell deklarierte Handelsbeziehungen zwischen Schweizer Unternehmen und der (unter US-Embargo stehenden) DDR zwar «tolerierte», aber faktisch auf der Seite des atlantischen Lagers stand – natürlich von der Bundespolizei überwacht. Zuvor, zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs, duldete der Bundesrat, wiederum im Namen der «Neutralität», die aktive Unterstützung des Franco-Regimes durch Schweizer Banken, inhaftierte aber gleichzeitig Schweizer Antifaschisten, die das Regime bekämpften. Es entgeht uns auch nicht, dass es in jüngerer Zeit eine mit der Neutralität unvereinbare Einmischung war, die venezolanischen Bürger aufzufordern, die Wahlurnen ihres Landes zu meiden, um die Regierung zu delegitimieren. Die Verhängung von Sanktionen der Europäischen Union (und nicht der UNO, der wir zumindest angehören würden) gegen Russland wegen des Krieges in der Ukraine, ohne jemals auch nur im Entferntesten die Massaker an der Zivilbevölkerung im Donbass durch den putschistischen Militarismus Kiews ab 2014 verurteilt zu haben, war nur das Vorspiel für die Entscheidung dieses Teils des kompradoristischen (transatlantischen) Bürgertums, unsere eigene Souveränität abzuschaffen und uns vollständig an die Befehle der USA und der EU zu binden.

4. Wiederbelebung der Neutralität – Diese Episoden anzuprangern, in denen sich die offizielle Schweiz, und schon gar nicht die bürgerliche Schweiz, dem Diktat ausländischer Mächte gebeugt hat, bedeutet jedoch nicht, dass das Prinzip der Neutralität etwas Falsches und Abzulehnendes ist, sondern vielmehr, dass eine rigorose Anwendung des Prinzips gefordert wird, die nicht nur völkerrechtlich korrekt ist, sondern vor allem den kollektiven Interessen des Schweizer Volkes und seiner nationalen Unabhängigkeit dient. Im Kontext des Imperialismus und einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft wie der Schweiz ist es nur natürlich, dass die Bourgeoisie als die gegenwärtig dominierende Klasse in der Eidgenossenschaft das Neutralitätsprinzip zuerst erdacht und dann opportunistisch angewandt hat, wobei sie es offensichtlich entsprechend ihren eigenen Klasseninteressen ablehnte. Es liegt an Oppositionskräften wie den unseren, einen Weg zu finden, um über die Massen den Hebel zu finden, damit sich die Bevölkerung einer Vision der Neutralität anschliesst, die mit den Prinzipien der Konferenz von Bandung und der Bewegung der Blockfreien Staaten vereinbar ist. Wir sind überzeugt, dass das Neutralitätsprinzip für unser Land nicht nur die beste Verteidigung gegen Einmischung von aussen ist, sondern auch eine Chance für die Eidgenossenschaft, von der internationalen Gemeinschaft als glaubwürdiger und respektabler geopolitischer Akteur, als Förderer des Dialogs zwischen den Nationen, als Brücke zwischen dem untergehenden Westen und dem aufstrebenden Eurasien sowie als Sitz wichtiger internationaler Organisationen anerkannt zu werden.

5. Neutral ist der Staat, nicht die Bürger! – Die Kommunistische Partei unterscheidet selbstverständlich zwischen staatlichen Institutionen und dem Schweizer Volk in seiner Pluralität. Erstere müssen den Grundsatz der Neutralität und die Einhaltung der diplomatischen Regeln gewissenhaft einhalten und so ihre guten Beziehungen zu allen Ländern gewährleisten, natürlich auch zu denen, die nicht die Unterstützung von uns Kommunisten geniessen; letztere hingegen können und müssen über ihre politischen Parteien und andere Organisationen, die die demokratische Debatte in der Gesellschaft gestalten und fördern, frei parteiliche Meinungen und Werturteile äussern und dafür die politische Verantwortung übernehmen.

6. Neutralität ist Souveränität! – Neutralität bedeutet für die Schweizer Kommunisten heute, einen souveränen Entwicklungsweg für das Land zu beschreiten. Sie ist gleichzeitig revolutionär (weil sie sowohl die wirtschaftsliberalen Diktate, die uns durch Abkommen wie das TTIP auferlegt werden, als auch die neokolonialistischen Diktate wie die Kohäsionsmilliarde der EU oder die Partnerschaft für den Frieden, die uns an die kriegerischen Abenteuer der Nato bindet, überwinden will), aber sie ist auch national-populär, weil sie den Gemeinschaftssinn und die Volkseinheit als Gegenmittel zum konsumorientierten Individualismus des heutigen Kapitalismus stärkt. Einerseits ist es notwendig, das folkloristische autarke Narrativ einer bestimmten patriotischen Rechten zu überwinden, andererseits ist es notwendig, sich vollständig und überzeugend in ein multilaterales System der Win-Win-Zusammenarbeit einzubringen, das in der Lage ist, die Handelspartner, Energiequellen, Absatzmärkte usw. unseres Landes zu diversifizieren. Es lohnt sich, an dieser Stelle an die Geschichte Finnlands während des Kalten Krieges zu erinnern, die ein eindrucksvolles Beispiel für die Bedeutung der Neutralität für kleine Staaten darstellt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Finnland eine lange Zeit des Wohlstands, in der sich die Wirtschaft aufgrund des intensiven Handels mit der damaligen Sowjetunion stark entwickelte. Diese gutnachbarschaftlichen Beziehungen wurden dadurch begünstigt, dass die politische Führung Finnlands auf den Beitritt zu den der UdSSR feindlich gesinnten Militärbündnissen verzichtet hatte. Finnland gehörte nicht zum sozialistischen Block und wurde von einem konservativen Präsidenten, einem Mitglied der Agrarpartei, geführt, der die Kommunisten in der Vergangenheit mit Waffen bekämpft hatte. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die finnischen Kommunisten und die Konservativen ihre gemeinsame Basis gerade im Prinzip der Neutralität. Der Verzicht auf die Einmischung in Konflikte zwischen Grossmächten, der Verzicht auf die Vasallentätigkeit für eine dieser Mächte: Das ist die Verpflichtung, die ein kleiner Staat eingehen muss, um seine politische Unabhängigkeit zu wahren. Damals wie heute gilt: In der sich abzeichnenden multipolaren Welt kann nur eine bündnisfreie Schweiz eine Brücke zwischen dem aufstrebenden Eurasien und dem unaufhaltsam untergehenden Westen bilden. Die Alternative dazu ist leider der Krieg als Folge der illusorischen Überlebensbedürfnisse des atlantischen Imperialismus.

7. Welche bewaffnete Neutralität? – Während es wichtig ist, klarzustellen, dass die Kommunisten das Wettrüsten und den Waffenexport ablehnen, ist es heute noch wichtiger, unsere kategorische Ablehnung der Mitgliedschaft der Schweiz in der Nato und in der PESCO (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Bereich Verteidigung und Sicherheit der EU) zu bekräftigen. Wir müssen jedoch in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des 24. Parteitages unsere politische Linie im militärischen Bereich weiter ausbauen. Obwohl unsere Partei 1989 und 2001 (vergeblich) Initiativen zur Abschaffung der Armee unterstützt hat, sind wir der Meinung, dass, solange die Schweizer Armee eine breite Unterstützung in der Bevölkerung geniesst, unsere Priorität darin bestehen muss, ihre gesellschaftliche Durchdringung einzuschränken und von ihr die strikte Einhaltung des Neutralitätsprinzips zu verlangen. Dies bedeutet, dass die schweizerische Militärdoktrin in ihrer alleinigen Funktion, die nationale Unabhängigkeit zu gewährleisten, überprüft und von jeglichem atlantischen Einfluss befreit werden muss: Wir lehnen daher erstens jegliche Auslagerung der Ausbildung von Armeekadern an ausländische Akademien ab. Zweitens stellen wir fest, dass unser Land praktisch von der Nato umgeben ist: Die einzige hypothetische Bedrohung durch eine Invasion geht also von der Nato aus, so unwahrscheinlich dies auch sein mag. Angesichts dieser Tatsachen ist es absurd, in Kampfflugzeuge und Waffensysteme zu investieren, die die Schweizer Armee ausschliesslich an die atlantische Technologie binden.

8. Volkseinheit für die Neutralität – Schweizer Kommunisten sind sich also im Rahmen des Übergangs vom Unipolarismus zum Multipolarismus bewusst, dass die Neutralität heute durch die am stärksten atlantisch orientierten Teile des Grosskapitals gefährdet ist. Sie müssen in der Lage sein, den Hauptwiderspruch für das Land zu begreifen und sich (taktisch und mit Rücksicht auf die verschiedenen politisch-ideologischen Identitäten) mit all jenen auseinanderzusetzen, die heute bereit sind, das Neutralitätsprinzip als grundlegendes und immerwährendes Element der schweizerischen Aussenpolitik in der Bundesverfassung zu verankern, und zwar mit den folgenden zwei Grundsätzen: a) der Verzicht auf den Beitritt zu Militärbündnissen und die Beteiligung an Konflikten zwischen Drittstaaten und b) der Verzicht auf die Verhängung von Sanktionen gegen kriegführende Länder. Dies bedeutet nicht, dass wir unsere traditionelle antimilitaristische Haltung aufgeben, sondern dass wir uns bewusst sind, dass sie am besten im Kontext eines wirklich neutralen und bündnisfreien Landes zum Ausdruck kommen kann.

Balerna, 15. Oktober 2022