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Eigenartige «Putsch»-Atmosphäre in den Strassen Rostows. Russland hat in dieser Affäre jedenfalls eine überlegene Reife in der Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte gezeigt. Ganz anders als die auf ihre angeblichen «Werte» pochenden westlichen Machthaber. Dazu gibt es immer wieder anschauliche Beispiele, zurzeit gerade in Frankreich.

Die Bewältigung des Wagner-Konflikts dürfte Russland gestärkt haben

Von RÜDIGER RAULS

Die Krise um die Wagner-Gruppe wurde schneller beigelegt als erwartet. Die russische Gesellschaft und Führung haben diesen Konflikt mit bemerkenswerter Gelassenheit und ohne Blutvergiessen gemeistert. Entgegen den Weissagungen sogenannter Experten aus dem Westen gab es keine Schwächung des russischen Präsidenten, keinen Bürgerkrieg, und auch der Zerfall Russlands blieb aus. Russland scheint aus diesem Konflikt gestärkt hervorzugehen.

Der Konflikt

Russland führt den Krieg in der Ukraine nicht nur mit regulären Truppen sondern auch mit Unterstützung russischer Privatarmeen. Die vermutlich stärkste, mit Sicherheit aber die bekannteste ist die Wagner-Gruppe. Sie hatte einen bedeutenden Anteil an der Eroberung von Artjomowsk.

Schon während dieser Kämpfe gab es immer wieder Kritik vonseiten des Führers dieser Gruppe, Jewgenij Prigoschin, an der russischen Armeeführung unter Verteidigungsminister Schoigu. Hauptkritikpunkt war die nach Prigoschins Meinung zu verhaltene Kriegsführung. Besonders im Kampf um Artjomowsk kam es immer häufiger zu Unstimmigkeiten wegen seiner Forderung nach mehr Munition und taktischer Unterstützung seiner Kämpfer durch die Kräfte der regulären russischen Armee.

Anscheinend herrschten zwischen den beiden Führungsstäben unterschiedliche Vorstellungen über die Art der Kriegsführung. Während die russische Armee eine personalschonende Strategie zu fahren scheint vergleichbar der kontrollierten Offensive beim Fussball, lassen die hohen personellen Verluste der Wagner-Gruppe eher auf eine sehr intensive, robuste Vorwärtsstrategie schliessen, vergleichbar den Sturmangriffen der konventionellen Kriege vor dem Ukraine-Krieg.

Prigoschin schob diese von ihm selbst bekannt gegebenen hohen Verluste auf den Mangel an Munition, nicht auf sein offensives Vorgehen. Diese Kritik wurde immer öfter öffentlich vorgetragen, was die militärische und politische Führung Russlands zunehmend unter Druck setzte. Nach dem Fall von Artjomowsk zog sich die Wagner-Gruppe zur Auffrischung der Kräfte ins Feldlager zurück.

Inzwischen hatte die politische Führung der Russländischen Föderation als Reaktion auf diese Konflikte und die Verunsicherungen, die sie in der Gesellschaft hervorgerufen hatten, damit begonnen, den Status der Privatarmeen neu zu regeln, die bisher eine Sonderstellung gehabt zu haben schienen. Die Inhalte dieser Regelungen wurden nicht im Detail veröffentlicht. Bekannt wurde jedoch, dass Vertragskräften mehr staatliche Leistungen in Aussicht gestellt wurden vermutlich im Gegenzug für eine stärkere Kontrolle durch den russischen Oberbefehlshaber.

Bis auf die Wagner-Gruppe waren die Privatarmeen – soweit bekannt – fristgerecht der Aufforderung des russischen Präsidenten nachgekommen, neue Verträge mit dem russischen Staat abzuschliessen. Entsprechend seinen Erklärungen und Forderungen schien Prigoschin dagegen das Problem grundsätzlicher angehen zu wollen: «Wir wollen nicht, dass das Land weiter in Korruption, Betrug und Bürokratie lebt»1.

Vermutlich in die Enge getrieben durch seinen eigenen Anspruch und die näher rückende Frist zum Vertragsabschluss mit dem russischen Staat, ergriff Prigoschin die Flucht nach vorne. In den frühen Morgenstunde des 24. Juni 2023 rückte er mit seinen Kämpfern in der grenznahen russischen Grossstadt Rostow ein und besetzte das Zentrum der Stadt mit dem Gebäude der Armeeführung.

Besonnenheit

In zahlreichen westlichen Medien wurden die Nachrichten aus Rostow mit einem gewissen Wohlwollen und auch Häme aufgenommen. Umgehend legte die US-Regierung die Vorbereitung von Sanktionen gegen die Wagner-Gruppe auf Eis, und der russische Oligarch Chodorkowsky riet dazu, Prigoschin gegen Putin zu unterstützen, um ersteren dann nach dessen Sieg selbst zu bekämpfen. Hoffnung keimte auf, dass dieser innerrussische Konflikt die Ukraine dem Sieg näher bringen könnte.

Der russische Präsident verurteilte das Vorgehen Prigoschins scharf, weil er damit den Feinden Russlands in die Hände spiele und das Land in dieser ernsten Auseinandersetzung durch zusätzliche Konflikte schwäche. Allen am Putsch Beteiligten wurde strafrechtliche Verfolgung in Aussicht gestellt. Wer sich von Prigoschin abwende, solle verschont bleiben. Dieser Aufruf hatte fürs Erste keinen Einfluss auf die Putschisten, sie zogen weiter in Richtung Moskau.

Wenn auch die Bevölkerung sich nicht offen gegen die Putschisten stellte, wozu beide Seiten ausdrücklich aufgerufen hatten, so wurde doch deutlich, dass sie auf wenig Unterstützung von dort setzen konnten. Auch vonseiten der Armee und Regierungsstellen erfuhren die Meuterer keine Zustimmung. Trotz ihres bedrohlichen Militärpotenzials waren sie in der Gesellschaft weitgehend isoliert. Zudem war unklar, was Prigoschin über seine Kritik hinaus eigentlich erreichen wollte.

Trotz der Tausenden an bewaffneten Kräften würde Wagner dennoch einer Auseinandersetzung mit der um ein Mehrfaches stärkeren russischen Armee nicht standhalten können. Die russische Führung schien auf einen weiteren Vormarsch vorbereitet zu sein. Doch auch Prigoschin dürfte sich über die Kräfteverhältnisse und die roten Linien der russischen Führung im Klaren gewesen sein, schliesslich ist ja auch er vom Fach.

Um 20 Uhr MEZ stoppte er überraschend seinen Vormarsch und verkündete seinen Rückzug ins Feldlager. Bis dahin war ausser der Meuterei nichts Dramatisches geschehen. Es war kein russisches Blut von Russen an Russen vergossen worden. Das schien wohl den Ausschlag gegeben zu haben für die folgenden Entscheidungen. Alle Seiten handelten besonnen, unaufgeregt und nicht getrieben von Emotionalität. Im Vordergrund standen Schadensbegrenzung und Versöhnung, nicht Rache und die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols.

Konfliktkultur

Egal wie man zu Putin, Russland und Prigoschin steht, so muss doch gesehen werden, dass die Entscheidungen, die nun getroffen wurden, nach anderen Kriterien zu Stande kamen, als die meisten im Westen erwartet hatten. Dort stand der Zweikampf im Vordergrund, das Denken in Siegern und Verlierern, und jeder Kommentator hatte dafür seinen eigenen Favoriten. Die meisten waren auch überzeugt, dass Rache geübt werden würde. Unklar war nur, wer wessen Rache zum Opfer fällt. Anders konnte man es sich bei den westlichen Meinungsmachern nicht vorstellen.

Im Gegensatz dazu zeigte das Vorgehen der russischen Regierung ein hohes Mass an Klugheit gegenüber den Putschisten trotz der vorher ausgesprochenen strafrechtlichen Konsequenzen. Auf Vermittlung des weissrussischen Präsidenten Lukaschenko war eine Regelung zustande gekommen, die die meisten Meinungsmacher überraschte. Hier zeigte sich eine Konfliktkultur, die nicht zum westlichen Russenbild passte.

Denn die westlichen Meinungsmacher gingen alle von ihrem eigenen Denken aus und konnten sich nicht vorstellen, dass die russische Gesellschaft nach andern Grundsätzen entscheidet. Anders als erwartet oder vielleicht sogar von einigen erhofft, kam es nicht zur Kraftprobe. Die Russen auf beiden Seiten handelten besonnen; sie vermieden den bewaffneten Konflikt.

Lukaschenkos Vermittlung kam auf Ersuchen von Putin zustande. Auch das war klug, denn es erleichterte die Einigung. Auch Prigoschin, sonst vielleicht ein Hitzkopf, handelte vernünftig und der Lage angemessen. Man dürfte ihm wohl die roten Linien aufgezeigt haben nebst der Konsequenzen, wenn sie überschritten werden.

Aber andererseits scheint man ihm auch die Hand gereicht zu haben, wenn diese Linien respektiert werden und kein grösseres Unheil angerichtet wird. Und Prigoschin nahm die ausgestreckte Hand, weil er wohl erkannte, dass ein weiterer Vormarsch nur eine sinnlose Niederlage und unnötiges Leid bringen würde. Insofern handelten beide Seiten der Situation und den Erwartungen angemessen.

Weise waren die Ergebnisse der Verhandlungen, denn sie boten über die Lösung des Konflikts hinaus eine Perspektive für das weitere Zusammenleben in der russischen Gesellschaft. Prigoschin wird nach Weissrussland übersiedeln, er wird nicht verurteilt, sondern begnadigt. Die Staatsmacht zeigt sich versöhnlich und festigt damit Zusammenhalt und Stärke der russischen Gesellschaft. Es gibt keine Verlierer und auch kein Nachtreten.

Dieses weitsichtige Handeln macht aus Prigoschin keinen Märtyrer, sondern er bleibt vielmehr lebender Beweis für die Besonnenheit der politischen Führung des Landes. Aber er verliert seinen Einfluss und die Macht, die ihm aus seiner Privatarmee erwuchsen. Das war das eigentliche politische Ziel Moskaus in dieser Auseinandersetzung. Lukaschenko wird sicherlich ein Auge darauf haben, dass das so bleibt.

Auch alle anderen am Konflikt Beteiligten werden begnadigt. Diejenigen, die nicht mit Prigoschin gegen Moskau gezogen waren, dürfen weiterhin als Vertragssoldaten unter den neuen Bedingungen für die Privatarmeen dienen. Das gilt auch für jene, die anfangs dabei waren, dann aber der Aufforderung des Präsidenten gefolgt waren. Damit festigt der russische Staat seine Kontrolle über die Privatarmeen und erhält darüber hinaus die Kampfkraft der russischen Armee. Öffentlich ausgetragene Differenzen dürften damit der Vergangenheit angehören.

Auch jene, die Prigoschin die Treue gehalten haben, werden trotzdem begnadigt. Es trifft sie nicht die angekündigte Härte des Gesetzes. Sie werden begnadigt in ausdrücklicher Würdigung ihrer Verdienste für Russland. Der russische Staat zeigt sich versöhnlich. Er dringt nicht auf Strafe und Rache. Diese grosszügige Geste verschafft ihm Ansehen und Anerkennung bei seinen Bürgern und ermöglicht auch der russischen Gesellschaft die Aussöhnung mit den Meuterern. Es gibt keine Sieger und keine Verlierer, keine Bürger, die für uns oder gegen uns sind.

Diese versöhnliche Haltung zeigte sich in vielen Videos, die über den Abzug der Wagner-Kämpfer im Internet zu sehen waren. Die Bevölkerung von Rostow klatschte Beifall. Das war keine Häme gegenüber den Unterlegenen. Das war Anerkennung für ihre Besonnenheit, kein Blutbad angerichtet zu haben, Anerkennung für ihre Einsichtigkeit, dass die Fortsetzung ihres Handelns zu nichts Gutem führt. Der Applaus war ein Zeichen der Versöhnung, so wie alle getroffenen politischen Entscheidungen getragen zu sein scheinen von diesem Wunsch.

1 siehe Link
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Rüdiger Rauls hat diesen Artikel am 26. Juni 2023 veröffentlicht. Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse
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Zum Thema siehe auch: → Jewgeni Prigoschins wilder Ritt: Ungünstig für die Föderation, Krise aber souverän gemeistert