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Wir haben israelische Häuser am 7. Oktober in die Luft gesprengt, sagt der israelische Oberst Nof Erez über die Luftangriffe in einem Podcast der israelischen Tageszeitung Haaretz. Dabei wurde gemäss der sogenannten Hannibal-Doktrin der israelischen Armee der Tod vieler Israeli bewusst in Kauf genommen. Auf dem Bild rechts Elbits Hermes 450 Militär-Drohnen, die zum Einsatz kamen. Bild: Ynet/Elbit Systems.

Friendly Fire: «Hannibal» macht keinen Unterschied zwischen Freund und Feind

Nachdem wochenlang behauptet worden war, dass am 7. Oktober 2023 1400 «Zivilisten» getötet wurden, korrigierte Israel letzten Monat seine Zahl der Todesopfer auf etwa 900 Zivilisten plus etwa 300 Soldaten und Polizisten. Ein offizieller israelischer Account, der am Samstag auf X (ehemals Twitter) gepostet wurde, senkte die Zahl der Todesopfer noch weiter auf «über 1000».

Über das Interview des israelischen Oberst Erez wurde zuerst vom Portal The Cradle berichtet. Das englische Portal The electronic Intifada hat ihre eigene unabhängige Übersetzung angefertigt, auf die dieser Text Bezug nimmt. Ein Teil des Erez-Interviews kann im Video weiter unten mit englischen Untertiteln angesehen oder in einem Transkript am Ende dieses Artikels nachgelesen werden.

Benannt nach Hannibal – dem legendären karthagischen Heerführer der Antike, der sich selbst vergiftet hatte, um sich der lebenden Gefangennahme zu entziehen, hat Israel vor etwa 30 Jahren eine geheime Militärdoktrin aufgestellt. Ihr Ziel ist es, Widerstandskämpfer daran zu hindern, Israelis gefangen zu nehmen, die für Verhandlungen über Gefangenenaustausch eingesetzt werden könnten. Im Jahr 2011 hatte Israel 1027 palästinensische Gefangene im Austausch für einen einzigen gefangenen Soldaten, der seit fünf Jahren in Gaza festgehalten wurde, entlassen.

Oberst Erez’ Interview mit Haaretz zeichnet ein Bild einer chaotisch wahllosen israelischen Reaktion auf den palästinensischen Militärangriff am 7. Oktober. Erez erzählte dem Podcast, dass es «Tonnen von Öffnungen im Zaun» mit Gaza gegeben habe und dass «Tausende von Menschen in jeder Art von Fahrzeug, einige mit Geiseln und andere ohne» zwischen Gaza und den israelischen Siedlungen sich hin und her bewegten. Es sei eine «unmögliche Mission» für die Flugzeugbesatzungen gewesen, zwischen palästinensischen Kämpfern und israelischen Häftlingen zu unterscheiden.

Auf die Frage des Haaretz-Interviewers Lior Kodner nach «Gerüchten, dass die Armee alle Arten von Häusern in den Siedlungen gesprengt hat» und nach der Hannibal-Direktive, bestätigte Erez, dass die Luftwaffe tatsächlich «Häuser gesprengt» habe, bestand aber darauf, dass sie dies nie «ohne Erlaubnis» getan habe.

Aber der palästinensische Militärangriff an diesem Morgen war so erfolgreich, dass es wahrscheinlich gar nicht möglich war, die Erlaubnis von hochrangigen Offizieren zu erhalten. Dutzende Stützpunkte und Aussenposten der israelischen Armee wurden am 7. Oktober von der Hamas und anderen bewaffneten Fraktionen vollständig überrannt. Sie zielten absichtlich auf die Kommunikationsinfrastruktur der israelischen Armee in der gesamten Region ab. Israels regionales militärisches Kommando und Kontrolle wurde schnell ausgeschaltet.

«Es gab zu diesem Zeitpunkt kein Divisionskommando mehr,» erklärt Erez im Interview. Es war fast sofort durch den palästinensischen Widerstandsangriff zerstört worden, der um 6.30 Uhr begann. Bis später am Tag habe es in der Region kein Kommando und keine Kontrolle mehr gegeben, sagte er. Erez erklärte weiter, dass Hubschrauberpiloten auf private Mobiltelefone ausweichen mussten, um mit den Notfallkommandos der Siedlungen (lokale israelische Milizen, die versuchten, den palästinensischen Angriff zu stoppen) in Kontakt zu treten. Diese Milizen dirigierten offenbar die Piloten und sagten ihnen, welche Häuser in die Luft gesprengt werden sollten. Es scheint, dass sie dies oft sogar unter Inkaufnahme der Tötung der gefangenen Israelis taten.

Video des Interviews mit Oberst Erez mit englischen Untertiteln (deutsches Transkript des Interviews am Schluss dieses Artikels)

Nach einigem Ausweichen von Erez auf Fragen über die umstrittene Hannibal-Direktive fragte der Haaretz-Moderator den Oberst direkt: «Ist es diesmal passiert?» Zunächst räumte Erez nur stillschweigend ein, dass israelische Gefangene «in dem Stadium verletzt worden sein könnten, in dem Hubschrauber und Drohnen auf den Zaun zu schiessen begannen, als sie die Massen ein- und aussteigen sahen.»

Aber weiter gedrängt stellte Erez deutlicher fest: «Die Hannibal-Richtlinie wurde anscheinend zu einem bestimmten Zeitpunkt angewendet.» Er erklärte, dass «in den letzten 20 Jahren» die Hannibal-Doktrin trainiert wurde, auch genau in einem solchen Szenario, in dem ein palästinensisches Fahrzeug mit einem israelischen Gefangenen vom Tatort flieht.

Was den 7. Oktober neu machte, sagte Erez, war, dass «dies ein Massen-Hannibal war. Es waren Unmengen von Öffnungen im Zaun und Tausende von Menschen in allen Arten von Fahrzeugen, zum Teil mit Geiseln und andere ohne.»

«Auf alles schiessen»

Erez’ Bericht stützt die Aussage eines anonymen israelischen Hubschrauberkommandanten, die im Oktober von der Nachrichtenwebsite Ynet veröffentlicht wurde. Der Pilot war von der 190. Squadron der israelischen Armee, die Apache-Helikopter hat.

Electronic Intifada hatte den Artikel letzten Monat übersetzt: «Oberstleutnant A» sagte, dass die Luftwaffe am 7. Oktober mehr als zwei Dutzend Kampfhubschrauber sowie Elbit-Drohnen – geschickt habe, um mit Raketen und Maschinengewehren auf alles entlang dem Gazazaun zu schiessen. Ynet berichtete, die Luftwaffe habe zugegeben, dass «es sehr schwierig war, zwischen Terroristen und [israelischen] Soldaten oder Zivilisten zu unterscheiden», aber dass der Kommandant seine Piloten angewiesen habe, «auf alles zu schiessen, was sie im Bereich des Zauns sehen» mit Gaza sowieso.

«Die Häufigkeit des Feuers auf die Tausenden von Terroristen war zu Beginn enorm, und erst ab einem bestimmten Punkt begannen die Piloten, ihre Angriffe zu verlangsamen und die Ziele sorgfältig auszuwählen», berichtete die Zeitung unter Berufung auf eine Untersuchung der israelischen Luftwaffe.

Nach Angaben der Luftwaffe griffen die Piloten in den ersten vier Stunden «etwa 300 Ziele an, die meisten auf israelischem Territorium».

Seit dem 7. Oktober gibt es immer mehr Beweise auf Hebräisch, die darauf hinweisen, dass eine bedeutende, aber unbestimmte Anzahl von Israelis während des palästinensischen Angriffs von Israels eigenen Luft- und Bodentruppen getötet wurde.

In einer weiteren kürzlichen Entdeckung von The Cradle wurden diese Berichte durch ein Interview mit Mitgliedern eines Drohnengeschwaders untermauert, das von der israelischen Zeitschrift «Mischpacha», einer Publikation für religiöse Juden, durchgeführt wurde. Laut der Zeitschrift ist das Geschwader 161 die einzige israelische Einheit, die die Angriffsdrohne Elbit Hermes 450, auch bekannt als «Zik», im Einsatz hat.

Drohnen waren die ersten Angriffe aus der Luft, mit denen auf den palästinensischen Militärangriff am 7. Oktober reagiert wurde, heisst es in der Zeitschrift. Man führte Luftangriffe «auf israelischem Territorium, auf Stützpunkten, auf Kibbuzim durch; etwas, auf das man sich nie vorbereitet hatte».

Ein anonymer Pilot erzählte dem Magazin von chaotischen Szenen an diesem Tag. «Wir bekommen normalerweise im Voraus eine geordnete Geheimdienstbesprechung,» sagte er. Aber da palästinensische Kämpfer Israels militärisches Kommunikationssystem so erfolgreich zerstört hatten, war ein solches Briefing unmöglich.

«In diesem Fall waren unsere Geheimdienstquellen Zivilisten vor Ort», sagte der anonyme Drohnenpilot und bestätigte damit Oberst Erez’ Aussage. «Wir betraten unsere Kontrollstationen mit unseren Telefonen, was normalerweise gegen das Protokoll verstösst.» Genauso wie Erez’ Männer: «Wir riefen Zivilisten in den Kibbuzim und Jischuwim [Anmerkung der Redaktion: die zwei Arten israelischer Siedlungen] in Echtzeit an, und sie gaben uns die Standorte von Terroristen an.»

Der Mischpacha-Artikel erwähnt die Hannibal-Direktive nicht ausdrücklich. Aber es wird berichtet, dass die Drohnen bei jedem Angriff «Dutzende von Terroristen töteten» und sie daran hinderten, «mit Gefangenen in den [Gazastreifen] zurückzukehren.» Es ist schwer vorstellbar, dass eine ferngesteuerte Kriegsdrohne wie die Hermes 450 palästinensische Kämpfer daran hindern könnte, mit ihren israelischen Gefangenen nach Gaza zurückzukehren, ohne dass sie alle zusammen getötet werden.

Warum hat Nof Erez gesprochen?

Erez verbrachte 20 Jahre beim Militär und weitere 24 Jahre als Reservist. Anfang dieses Jahres war er einer von mehreren Reserveflugpiloten, die sagten, sie würden die Ausbildung einstellen, um gegen die Pläne von Premierminister Benjamin Netanjahu zu protestieren, die israelische Justiz zu überarbeiten.

Aber seine vorübergehende Weigerung, wegen politischer Differenzen im Militär zu dienen, hielt nicht lange an. In seinem Haaretz-Interview sagte er, dass er am 7. Oktober in einer israelischen Militärkommandozentrale «zahlreiche Drohnen über jeder Siedlung [an der Gaza-Grenze] auf einem Computerbild gesehen» habe.

Ynet berichtete Ende Oktober, dass er im «aktiven Dienst» war, aber bald darauf seines Kommandos enthoben wurde, nachdem er privat damit gedroht hatte, Netanjahus Regierung nach dem Ende des aktuellen Krieges zu «demontieren». Erez’ persönliche Feindseligkeit gegenüber Netanjahu könnte teilweise seine Bereitschaft erklären, der Presse gegenüber explizit über die Hannibal-Direktive zu sprechen.


Interview-Transkript

Quelle: Haaretz Podcast «Die Woche»
Datum: 9. November 2023

Lior Kodner (Moderator): In den letzten Tagen, nach dem 7. Oktober, hat Netanjahus Giftmaschine gesagt, dass die Luftwaffe nicht schnell genug in die Schlacht eingestiegen und nicht bereit gewesen sei. Du warst da. Wart ihr nicht bereit?

Nof Erez, Oberst der Reserve: Wie das gesamte israelische Militär war es technisch nicht bereit für ein Ereignis, das plötzlich ohne Vorwarnung eintritt. Aber die Verleumdungen, die [von Netanjahu] ausgehen und auftauchen, sind völlige Lügen. Die Kampfhubschrauberstaffeln, beide, waren sehr schnell einsatzbereit. Übrigens braucht es Zeit, um am Samstagmorgen von Tel Aviv nach Ramon [Luftwaffenstützpunkt] zu gelangen. Aber … innerhalb von zwei oder drei Stunden wurde eine nicht geringe Anzahl von Hubschraubern in die Luft gebracht: 10 Uhr morgens, glaube ich. Die ersten, sogar um 7.15 Uhr. Aber es dauerte einige Zeit, bis andere Teams die Basis erreicht hatten. Man muss eine einfache Sache verstehen, die für niemanden geklärt ist: Ich war in den letzten zwei Jahren daran beteiligt, es der gesamten IDF [israelische Armee] beizubringen, ich habe vierzig Tage Reservedienst für die IDF geleistet. Ein Hubschraubergeschwader arbeitet so, dass es im Einsatzgebiet ankommt und versucht, mit dem Divisionskommando Verbindung aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt gab es kein Divisionskommando. Selbst um 6.30 Uhr gab es kein Divisionskommando. Wenn dies nicht gelingt, spricht es mit dem Brigadekommando. Dieses war auch nicht [ansprechbar] von … damals. Und das Kommando des Bataillons 13, das dort in der Gegend war, war leider auch … nicht leicht zu erreichen. Übrigens kenne ich einige Geschichten von Kampfhubschrauberpiloten, die über Mobiltelefone mit den Notfallkommandos der Siedlung kommunizierten, die mit ihnen das Schiessen innerhalb der Siedlungen per Mobiltelefon koordinierten.

Lior Kodner: Anscheinend ist das auch die Quelle der Gerüchte, dass die Armee alle Arten von Häusern in den Siedlungen gesprengt hat, der Hannibal-Direktive und allerlei Verschwörungstheorien, die in den ersten Tagen herumliefen.

Nof Erez: Sie haben keine Häuser ohne Erlaubnis gesprengt. Übrigens habe ich auf einem Computerbild zahlreiche Drohnen über jeder Siedlung gesehen, die wir in jedem IDF-Befehl sehen können. Es gibt ein ernstes Problem mit dem Einsatz von Drohnen auf unserem Territorium, wenn wir nicht wissen, wer der Feind ist und wer der Notfalltrupp ist und wer unsere Soldaten sind – um 10 Uhr waren bereits einige da. Und sie aus der Luft ohne das FLIR-System (Wärmebild) des Kampfhubschraubers oder der Drohne zu identifizieren, ist völlig unmöglich. Wenn es niemanden gibt, mit dem du reden kannst, und sie dir sagen können: «Mein Standort ist in der Nähe oder bei Haus soundso, und jeder auf der anderen Seite ist ein Feind», ist es sehr schwer zu treffen und zu starten. Die Hannibal-Richtlinie, von der ebenfalls die Rede ist, ist ein Befehl zur Verhinderung der Entführung eines einzelnen Fahrzeugs. Die Direktive wurde auf der Grundlage von Entführungen, wie sie sich vor 39 Jahren im Libanon ereigneten, verfasst. Auch hier gibt es keine eindeutige Entscheidung, dass der Kampfhubschrauber oder die Drohne, die das Fahrzeug identifiziert, auf das Fahrzeug selbst schießt, um die Entführung um jeden Preis zu verhindern, natürlich auch um den Preis, dass die Geisel zu Schaden kommt. Dafür gibt es keine eindeutige Anweisung.

Lior Kodner: Und ist es diesmal passiert?

Nof Erez: Wir wissen nicht, ob Geiseln verletzt wurden, als Hubschrauber und Drohnen auf den Zaun zu schiessen begannen, als sie die Massen ein- und aussteigen sahen.

Lior Kodner: Aber die Hannibal-Direktive ist beabsichtigt. Wenn sie angewendet wurde, wurde sie absichtlich angewendet. Wenn in diesem Fall Geiseln verletzt wurden, ist das etwas anderes.

Nof Erez: Die Hannibal-Direktive wurde anscheinend zu einem bestimmten Zeitpunkt angewendet, denn in dem Moment, in dem sie verstehen, dass es eine Entführung gibt, sagen sie sofort: «Leute, das ist Hannibal.» Aber der Hannibal, den wir in den letzten zwanzig Jahren trainiert haben, ist für ein Fahrzeug, von dem wir wissen, an welcher Stelle des Zauns es durchfährt, auf welcher Seite es fährt und vielleicht sogar auf welcher Strasse es fährt. Das hier aber war ein Massen-Hannibal. Es gab Unmengen von Öffnungen im Zaun und Tausende von Menschen in allen Arten von Fahrzeugen, einige mit Geiseln und andere ohne. Es war eine unmögliche Mission, das zu identifizieren und zu tun, was sie taten. Ich weiss, dass jeder, der Waffen zur Hand hatte, die Kampfhubschrauber und die Drohnen, alles getan hat, was er konnte – ohne Kontrolle, ohne Koordination mit Bodentruppen, weil es in der ersten Stufe keine gab. Später, als die Streitkräfte bereits eingetroffen waren, gab es dann ein paar Leute zum Kommunizieren. Übrigens, die Spezialeinheiten kamen ziemlich schnell an, aber sie arbeiteten nicht als Einheiten, sie arbeiteten als Einzelpersonen, und deshalb sahen wir auch die Anzahl der Verwundeten unter den Kommandos von Matkal und Shalldag. Sie arbeiteten nicht vernetzt, man könnte sagen, sie rannten mit Messern im Mund, brachen in die Häuser ein und versuchten, [Gefangene] zu befreien, und es gelang ihnen in sehr vielen Fällen. Aber sie hatten keine Kommunikationskapazität, um die Kampfhubschrauber zu koordinieren oder Hilfe zu erhalten. Und das ist eines der Dinge, die sie auch dazu veranlasst hatten, ihr Möglichstes zu tun, aber ohne kontinuierliche Luftunterstützung.

Übersetzung aus dem Hebräischen von David Sheen.
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Dieser Beitrag wurde ursprünglich von The Electronic Intifada am 5. Dezember 2023 veröffentlicht. Übersetzt mit Hilfe von Yandex Translator.