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Antinationale Akrobatik

Die «Junge Welt» publizierte einen Artikel von Thomas Wagner, worin der Autor den Begriff der Nation für so widerwärtig und abkömmlich hält, dass er sich standhaft weigert zu begreifen, was eine Nation ist. Er behauptet, dass der Begriff der Nation eine “nicht vorhandene Homogenität” suggeriere, und legt Wert auf die Formulierung, dass Nationen “keine selbsttätig handelnden Geschichtssubjekte” seien, weil sie sonst den allein handlungsbefugten Klassen in die Quere kämen. Es wird genügen, zwei Aussagen von Wagner zu vergleichen, um zu sehen, in welchem heillosen Durcheinander sich dieser Autor verrenkt, und dies notabene auf einem Gelände, dessen Tücke er im Titel seines Aufsatzes (“Auf ideologischem Glatteis”1) selbst anspricht.

Zitat 1: “Bei Begriffen wie Nation, Volk, Heimat, Rasse oder Vaterland um ein ideologisches Cluster handelt, mit dem gerade in Deutschland reaktionäre Vorurteile transportiert und nach menschlichen MaÖstäben unvorstellbare Verbrechen begangen worden sind.”

Zitat 2: “So ist die Umkehrung oder Verschiebung der Täter-Opfer-Perspektive … ein beliebtes Argumentationsmuster der Neuen Rechten … Die Deutschen erscheinen nun nicht mehr als verantwortliche Täter und Mittäter der faschistischen Verbrechen, sondern als Opfer einer alliierten Schuldzuschreibungskampagne.”

Kombinationssprünge der Will-Kür

Im 1. Zitat stellt Wagner fest, dass sich der bürgerliche Nationalismus reaktionärster Sorte des ganzen Klumpen von verwirrlichen Begriffen (Nation usw.) als ideologische Waffenfabrik bedient. Er wendet sich gegen die auf diesem Weg erzielten Erfolge der rechtsextreme Ideologie. Das ist brav so. Aber die Sache hat, wenn man dabei stehen bleibt und nicht tiefer geht, mehrere Haken, darunter:

  • die Widerlichkeit des bürgerlichen Nationalismus berechtigt uns nicht, an den Dingen vorbeizuschauen und gar die Existenz und Bedeutung der Nation zu bezweifeln. Dass bürgerlicher Nationalismus schadet, ist nicht zu bestreiten. Aber die Nationen werden sich schwerlich überzeugen lassen, dass sie deswegen aufhören sollen zu existieren.
  • das Vorhandensein und Wirken eines “ideologischen Clusters” von Nachbarbegriffen der Nation ist nicht bestritten. Die “rechten” Opfer solcher Cluster haben ihre “linken” Doppelgänger in den Leuten, welche genau dieselben Begriffsklumpen wiederkäuen, sofern man ihnen nur gestattet, den Gulasch mit dem negativen Vorzeichen Abscheus bis zum Kotzen zu verzehren. Das genannte Knäuel von Begriffen kann sogar auf fernere Verwandte wie Autorität, Gewalt, Disziplin, Ordnung, Sicherheit ausgedehnt werden. Auch in allen daherigen Fragen neigen hierzulande Teile der Linken zu reflexartigen Reaktionen.

Wer blind für Unterschiede und Schattierungen des Nationalismus ist, kann auch die eigenen Ziele nur schwammig andeuten und wird sie leicht aus den Augen verlieren. Was dabei herauskommt, zeigt das zweite Zitat, worin Wagner widerlegt, was er eben noch behauptet hat. Im 2. Zitat vertritt der Athlet die Auffassung, dass “die Deutschen” als verantwortliche Täter angesehen werden müssen. Laut Wagners erstem Zitat darf das deutsche Volk zwar nicht existieren, denn Nationen sind “keine selbsttätig handelnden Geschichtssubjekte” usw. – aber ihre Nichtexistenz erlöst “die Deutschen” in Wagners Augen noch lange nicht von ihrer Erbschuld als verantwortliche Täter. Fürwahr kann kein Rittberger und kein Doppellutz mit diesem zweifachen Wagner mithalten.

Und was resultiert in der Quintessenz aller “Begriffskritik” eines deutschen Ideologen, dem es auch noch einfällt, anderen Autoren vorzuwerfen, sie würden darauf verzichten, den Begriff der Nation “ideologiekritisch zu prüfen”? Es kann nur der Unsinn daraus hervorgehen, der hineingelegt wurde:

  • Die deutsche Nation ist so gewissenlos, dass mit Ausnahme des schlechten Gewissens nichts von ihr übrig bleiben darf.
  • Du denkt, du seiest, aber du existierst nicht, nur die Last deiner kollektiven Schuld braucht dich als Erbträger. Du denkst, also bist du nichts als schuldig.

Ideologiekritisch geprüft?

Dass der von Wagner “ideologiekritisch geprüfte” Antinationalismus so abstrakt gefasst ist, dass seine Gütesiegel oder Vermaledeiungen jede beliebige Richtung annehmen können, die ihnen konkret gegeben wird, sei hier nur angedeutet:

  • Auch in Deutschland und durch deutschen Imperialisten kann die antinationale Propaganda auch gegen alle unterdrückten Nationen und um Befreiung kämpfenden Völker und gegen jene Länder gewendet werden, die ihre nationale Integrität und Unabhängigkeit sowie die Kontrolle über ihre Ressourcen gegen die Angriffe der Imperialisten verteidigen und auf friedlichen internationalen Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung von souveränen Staaten und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten beharren.
  • Nahezu alle politischen Kräfte und Elemente, die ernsthaft die Interessen ihrer Länder und Völker verteidigen, werden von der imperialistischen Hetzpropaganda als extreme Nationalisten verschrieen, wobei die Verleumder es in keinem Fall daran fehlen lassen, die Verleumdeten mit Faschisten gleichzusetzen. Im Falle der Zerschlagung Jugoslawiens haben wir die verheerende Wirkung des “ideologiekritisch geprüften” Antinationalismus und seine Rolle im Dienste der Maskierung der imperialistischen Verbrechen gesehen.
  • Heute (Afghanistan usw.) erweist sich der rotgrüne oder rotschwarze Kosmopolitismus als Griff des deutschen Kapitals nach geostrategischen Stützpunkten, nachdem es seine ökonomische Vormachtstellung in der Euro-Zone durchgesetzt und seine Kontrolle über das politische Geschehen im Rahmen der EU weiter ausgebaut hat.
  • Die kombinierte Wirkung der nationalistischen Propaganda und ihrer antinationalen Gegenpropaganda, die mechanisch auf die Deutschen eindrischt, schafft dem deutschen Kapital die günstigsten Voraussetzungen für allerlei Manöver und erleichtert ihm die Täuschung über den wahren Charakter der Allianzen mit den US-Imperialisten, dem britischen Grosskapital und dem Zionismus.
  • Schliesslich noch dies: weil der Patriotismus angeschwärzt wird, und weil der Chauvinismus nur dann bekämpft wird, wenn national beschränkt, kann es nicht ausbleiben, dass der Chauvinismus sich vermehrt auf die europäische Ebene heben wird, wo ihm viel Segen und offizieller Zuspruch winkt.

Kampf um Begriffe und Klassenkampf

Wie wenig vorurteilsfrei Wagners Forscherauge an die Sache herangeht, wird bereits im Untertitel seines Artikels klar: –Sollte der Begriff der Nation von links angeeignet werden?». So kann nur einer fragen, der die Begriffe mit Waren verwechselt und nach Marketingkonzepten sucht. Selbstverständlich muss sich die Linke den Begriff jeder Sache aneignen, und Wagner ist das nebenbei gesagt im Falle der Nation schwer misslungen. Für den ideologischen Kampf entscheidend ist, dass sich die Linke die gesellschaftliche Definitionsmacht über Begriffe wie Klasse, Nation, internationale Solidarität, Imperialismus, Faschismus usw. zurückerobert. Für die Begriffe selbst ist aber entscheidend, dass sie die Zusammenhänge richtig widerspiegeln, um die den gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen zugrunde liegenden Bewegungsgesetze für die Praxis des Klassenkampfs nutzbar zu machen. Brauchbare Qualität der Widerspiegelung setzt grob gesagt Begriffe von genügender Bestimmtheit, Tiefe und Elastizität voraus.

Der Unschärfe des Begriffs schleudert W. die Schärfe seines Nichtbegriffs entgegen

Für Wagner ist der Begriff der Nation “diffus”, anstatt “gut durchdacht” und “klar konturiert”. Die von ihm konstatierte “Unschärfe des Begriffs” diene dem Irrationalismus als Einfallstor. Wagner unterlaufen bei seiner Begriffskritik reihenweise Fehler:

  • Er verwechselt die Begriffsfrage mit der Frage nach der Tauglichkeit von Losungen für bestimmte Zwecke und mit der Bewertung der Wirksamkeit und Nützlichkeit von agitatorischen, propagandistischen Themensetzungen.
  • Er bemerkt nicht, dass der von ihm beklagten “Unschärfe des Begriffs” hauptsächlich die Unschärfe (Unreinheit, Unebenheit, Widersprüchlichkeit) aller materiellen Bewegung und damit auch aller geschichtlichen Vorgänge zugrunde liegt.
  • Er windet sich gegen nationale Tatsachen und wendet sich gegen die “Unschärfe des Begriffs”: das schartige Messer des Begriffs soll sich vor der Schärfe des Nichtbegriffs zurückziehen, wenn Wagner seinen Doppelhänder zückt. Aber trotz Wagner gewetzten Bedenken will die Geschichte nicht so, als er wohl will.
  • Er übersieht, dass sich die leidige Tatsache der Existenz von Nationen nicht willkürlich mit dem Besen der Wegdefinition unter den Teppich kehren lässt.
  • Es bleibt ihm verborgen, dass die Rechte ihre Rolle als Verteidigerin der Nation ungerechtfertigt erlangt und dass sie diese Position missbraucht. Sein vermeintlich linker Widerwillen gegen alles Nationale scheint auf diesen historischen Verlauf zurückzugehen.

Voilà der “gut durchdachte” Zwischenstand aus einigen von vielen Unschlüssigkeiten und Trugschlüssen, denen man sich unweigerlich in grösserer Anhäufung aussetzt, wenn man sich scheut, mit Begriffen zu operieren, und wenn man stattdessen versucht, dieselben Denkoperation mithilfe eines Nichtbegriffs zu vollziehen, so dass der Operateur den Erscheinungen der objektiven Realität einfach den Ausweis der rechtsgültigen Existenz entzieht, wenn sie keine Gnade vor seinen Augen finden.

Mehr zum Begriff der Nation

Die Nationen sind ihm eine anrüchige Tatsache und deswegen in Wagners anständiger Theorie nicht vorgesehen. Anstatt des Begriff (das Begreifen der Sache) anzustreben, wählt Wagner den bequemeren Weg, die nicht begriffene Sache zu leugnen. Wagners Ausweg hilft ihm aber nicht aus der Patsche; denn:

  • Wie erklärt Wagner seine “linke” Theorie einem Arbeiter, der entlassen wurde, weil sein Ausbeuter genug zusammengescheffelt hat, um das Kapital nach Osteuropa oder Ostasien zu exportieren und die Produktion dorthin zu verlegen, wo die Ausbeutung am schärfsten ist und die Arbeiterrechte am meisten unterdrückt werden. Wenn dieser Arbeiter nun die Forderung aufstellt, dass die Linke den nationalen Produktivapparat verteidigen müsse.
  • Was sagt Wagner weiter einem Demokraten, der seinen in der nationalen Verfassung verankerten Demokratismus lieb gewonnen hat und gegen die demokratiefeindlichen Konzepte der EU-Diktatur der grossen deutschen und verbündeten Finanz- und Wirtschaftsgruppen verteidigen will?
  • Welche Antwort gibt Wagner dem Arbeiter, der die Massnahmen der EU zur Beschaffung von billiger Arbeitskraft (Personenfreizügigkeit usw.) wegen dem erwiesenen Lohndumping ablehnt.

Der bürgerliche Nationalismus verdankt seine Erfolge nicht zuletzt den Fehlern von Gegnern, welche ihn inkonsequent, halbherzig, absolut, einseitig (und oft an der falschen Seite) bekämpfen. Nicht wenige dieser Fehler sind darauf zurückzuführen, dass Gegner des Nationalismus mit unbrauchbaren Begriffen an die Sache herangehen.

Im Extremfall treffen wir auch innerhalb der Linken auf Leute, welche die Nation als eine Art Abstammungsgemeinschaft, als Erweiterungsform der Blutsverwandtschaft begreifen. Mit diesem Begriff kommt man der Nation nicht auf die Spur. Wer darauf pocht, die Nation als Geburtsgemeinschaft zu nehmen, weil unsere Bezeichnung auf das Lateinische Verb “nascere” zurückgeht, kann nicht erwarten, dass sich die lebendigen Nationen nach seinen etymologischen Kriterien verhalten werden.

Die dem marxistisch-leninistischen Begriff der Nation zugrunde liegende Definition ist in Stalins Arbeit “Marxismus und nationale Frage”2 von 1913 gegeben:

Definition: “Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.”

Und sie bewegt sich doch!

Nun soll einer kommen und sagen, die Stalinschen stabilen Gemeinschaften seien nichts als Potemkinsche Dörfer. Es ist schon lächerlich genug, wenn behauptet wird, dass alle Geschichte vor der Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten bar jeder Nationalregung ausgekommen wäre. Der Kapitalismus wirft lange Schatten voraus, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Ähnliches lässt sich von den Regungen der Nation sagen. In Westeuropa setzte sich schon am Ausgang des Mittelalters unter der Form des Nationalkönigtums eine nationale Zusammenfassung der Hoheitsrechte in souveränen Nationalstaaten wie England oder Portugal und später Frankreich und Holland ab. In Italien und Deutschland, wo die Kirche in vertrautem Verein mit reaktionären Fürstenhäusern das Recht gepachtet hatte, das Land in Uneinigkeit zu halten, wurde dieser Prozess um Jahrhunderte verlangsamt.

Die Nation, die es laut Wagner nicht einmal geben darf, bewegt sich eben doch, und ihre Bewegungen lassen sich nicht auf Zuckungen des schlechten Gewissens reduzieren. Wenn die Linke das versucht und überhaupt den Ratschlägen von Wagner und seinesgleichen folgt, darf sie sich nicht wundern, wenn die Nation in ihren Bewegungen immer weiter nach rechts driftet, und wenn Patrioten sich von einer solchen –Linken» angewidert abwenden.

Die Linke darf die Nation keinesfalls ignorieren. Gerade heute muss sie die nationale Souveränität gegen die supranationalen Machtinstrumente des Grosskapitals wie EU und NATO verteidigen. Die Ergebnisse der Klassenkämpfe des 20. Jahrhunderts sind in nationalen Verfassungen festgeschrieben. Im Versuch, diese Errungenschaften (Arbeiterrechte, Sozialversicherung, Demokratie usw.) zu beseitigen, spielt die EU eine zentrale Rolle. Nationale Regierungen setzen ihre arbeiterfeindlichen Absichten oft nicht direkt und in eigener Verantwortung um. Sie holen sich entsprechende Direktiven aus Brüssel, um sich gegenüber dem eigenen Volk aus der Verantwortung zu stehlen. Die 3%-Haushaltsklausel ist ein typisches Beispiel einer solchen EU-Regel. Die Richtlinien, die sie von Brüssel abholen möchten, basteln sich die vereinigten nationalen Minister selbst.

Historische Stellungnahmen der Arbeiterklasse und ihrer Partei zu Nation und Vaterland

Es ist eigenartig, dass Wagner bei seinen Betrachtungen nicht auf die reichhaltige und von der Arbeiterklasse teuer bezahlte Sammlung von historischen Erfahrungen und auf die Schatzkammer von wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema eingeht und sich nicht einmal mit den altbekannten Einwänden gegen seine auch nicht gerade neue Theorie befasst. Obwohl der Übersichtlichkeit halber nummeriert, handelt es sich dabei nur um eine zufällige Zusammenstellung von ersten, vereinzelten Hinweisen:

  1. Bebel und W. Liebknecht traten entschlossen für die Landesverteidigung ein, als Louis Napoléon glaubte, Deutschlands Recht auf nationale Einigung mit einem Krieg verhindern zu müssen. Die deutschen “Eisenacher” und damit der Marxismus gewannen in ganz Europa an Ansehen, als sie sich der Fortsetzung des Kriegs mit derselben Entschlossenheit widersetzten, sobald der französische Kaiser gefangen und in Paris die Republik errichtet wurde, so dass der Charakter des Kriegs von einem gerechten Verteidigungskrieg des deutschen Volkes in einen ungerechten Eroberungskrieg für preussisch-dynastische Interessen umschlug.
  2. Zur gleichen Zeit geisselte Marx im “Bürgerkrieg in Frankreich” den nationalen Verrat der französischen Bourgeoisie, welche die Landesinteressen an Preussen verkaufte, und Bismarck den Schutz ihrer Klassenprivilegien anvertraute. Lenin dazu: “Um die proletarische Bewegung niederzuwerfen, ging die französische Bourgeoisie, ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken, ein Abkommen mit dem Feind der gesamten Nation ein, mit den fremdländischen Truppen, die ihr Vaterland verheert hatten.”
  3. Marx hat den englischen Proletariern klar gemacht, dass die nationale Befreiung eine Vorbedingung ihrer eigenen Befreiung von der Klassenherrschaft bildet.
  4. Lenin sprach sich gegen die “Vaterlandsverteidigung” im imperialistischen 1. Weltkrieg aus. Dabei analysierte er den imperialistischen Charakter des konkreten Krieges und die durch denselben geschaffenen konkrete Lage (den Verrat der Helden der Zweiten Internationale usw. usw.). Eine Beurteilung der Korrelation der Klassenkräfte und der internationalen Lage um die Zeit von 1915 durch Lenin ist nun allerdings nicht dasselbe wie ein wissenschaftliches Gesetz. Einige scheinen Lenins Lagebeurteilung gar für einen unumstösslichen Glaubenssatz zu nehmen und sprechen sich gegen absolute jede Landesverteidigung aus. Lenin selbst hat das wohl geahnt und entsprechende Klarstellungen hinterlassen.
  5. Die Bolschewiki vertraten das Recht jeder Nation, sich vom russischen Zarenreich oder dessen Konkursmasse unabhängig zu erklären. Rosa Luxemburg griff die Bolschewiki deswegen an und erklärte das Selbstbestimmungsrecht für eine kleinbürgerliche Schrulle.3 Die ablehnende Haltung der polnischen Sozialdemokratie gegen das Selbstbestimmungsrecht hat sich als folgenschwerer Fehler erwiesen. Der dennoch erstarkende polnische Nationalismus verlor damit seine fortschrittlichen Züge und sog reaktionäre und antisowjetische Züge Elemente auf, was auch im Bestreben einiger Grossmächte lag. Der reaktionäre polnische Nationalismus trug in Verbindung mit dem universalen Papsttum wesentlich zur Sabotage der Volksrepublik bei.
  6. Stalin erläuterte in den “Grundlagen des Leninismus”4 den wichtigen Unterschied zwischen der Anerkennung der Rechts auf Lostrennung einerseits und anderseits der Frage, ob eine Forderung nach Souveränisierung im konkreten Fall erhoben und praktisch unterstützt werden soll. Unsere solidarische Unterstützung gilt jenen Nationalbewegungen, die den Imperialismus schwächen, und wir bekämpfen selbstverständlich solche, die der Stärkung des Imperialismus dienen und zu diesem Zweck von ihm gezüchtet werden. Bekanntlich haben sich Marx und Engels für die irische, polnische und ungarische Nationalbewegung (aber zum Beispiel gegen die tschechische) ausgesprochen. (Es handelt sich um einen Unterschied, der seine Parallele in unserer Stellung zur Religion findet: Wenn wir jedermanns Recht anerkennen, seine “religiöse Notdurft” zu stillen, so verpflichtet uns das dennoch nicht zu eigener Frömmigkeit und belässt uns jede Freiheit, mit diesen oder gegen jene Mönchsgruppen Koalitionen einzugehen. Die Stellung zu Klerikalfaschismus, Opus Dei, Lamaismus muss und kann dabei nicht in eins fallen mit der Stellung zur Befreiungstheologie, zur Bekennenden Kirche oder zu den von schiitischen Geistlichen geführten fortschrittlichen Volksbewegungen.)
  7. Der Grosse vaterländische Krieg, den die europäischen und asiatischen Sowjetvölker den faschistischen Eindringlingen lieferten und bis zur Zerschlagung der gefürchteten Wehrmacht und zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands fortsetzten, ist das geschichtlich grösste und leuchtendste Beispiel der Tateinheit von Patriotismus und internationaler Solidarität. Die Bereitschaft der Arbeiter, Bauern und Soldaten zur Verteidigung zeugt für die besondere Verbundenheit der werktätigen Massen mit ihrem sozialistischen Vaterland.
  8. In einer Rede vom 14. Oktober 1952 wies Stalin den 19. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) darauf hin, dass die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs eine Lage geschaffen haben, in welcher sich die Bourgeoisien gezwungen sehen, das nationale Banner zu verraten, und dass es an der Arbeiterklasse ist, dieses Banner wieder aufzuheben. Die europäischen Bourgeoisien müssen die nationale Souveränität für Dollars verkaufen. Stalin riet den Kommunisten, die aus dieser günstigen Lage fliessenden Vorteile konsequent auszuschöpfen.5
  9. Die Patrioten der portugiesischen Kolonialvölker von Angola, Mozambique, Guinea-Bissau usw. fanden in der portugiesischen Arbeiterklasse und in ihrer Kommunistischen Partei (PCP) die treuesten Verbündeten im Befreiungskampf gegen die Allianz von Salazarismus und Imperialismus. Die PCP hat vorgelebt, was proletarischer Internationalismus in unserem Zeitalter bedeutet, indem die Partei einen intensiven und opferreichen Kampf gegen den Kolonialkrieg führte, mit unermüdlicher Geduld jedem Klassengenossen die Bedeutung der antiimperialistischen Solidarität mit den afrikanischen Völkern erklärte und auch unter den härtesten Bedingungen von Illegalität und faschistischer Unterdrückung eine rege antimilitaristische Propaganda unter allen grossen Volksklassen entfaltete, speziell bei den Soldaten und Stellungspflichtigen. Seit den 1960er Jahren hat die Arbeiterklasse Portugals konsequent und unablässig von einer “nationalen Revolution” als Angelegenheit aller grösseren Volksklassen Portugals gesprochen. Zugleich hat sie diese Revolution als internationale Angelegenheit betrachtet und als konsequente Position der antiimperialistischen Solidarität verteidigt. In derselben Zeit knüpfte die Partei sehr enge Beziehungen mit der Befreiungsbewegung der afrikanischen Völker. Bei zahlreichen Erfolgen dieser Bewegungen auf diplomatischen, militärischen, ideologischen und politischen Gebieten hatte die PCP die Hand im Spiel, der es auch gelang, einigen afrikanischen Führern zur Flucht aus portugiesischer Gefangenschaft zu verhelfen.
  10. ¡ Patria o muerte ! – dieser Ruf klingt aus dem sozialistischen Kuba herüber auf das Festland, und sein Echo hallt auch in Ländern Lateinamerikas, die noch zögern, den Weg des Sozialismus einzuschlagen und vorderhand bloss um ihre volle Souveränität und Anerkennung als gleichberechtigte Nationen kämpfen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen. Die Kommunisten dieser Länder unterstützen diesen Kampf auch dort, wo die Arbeiterklasse noch nicht im Besitz der Staatsmacht ist.
  11. Die Kommunisten haben sich seit jeher für die Verteidigung der nationalen Belange eingesetzt und tun es auch in unserer Periode, zum Beispiel im letzten Libanonkrieg im Sommer 2006, Schulter an Schulter mit der Hizbollah, im bewaffneten Kampf gegen die israelischen Eindringlinge.

Kein Einzelfall

Wagner verweist zu Recht darauf, dass bestimmte Themen als nationale Themen hingestellt werden, die sich bei näherem Besehen als Klassenfragen erweisen. Es nervt ihn, dass deswegen Klassenfragen verwischt werden. Leider ist es nun mal so und nicht anders: Fragen pflegen selten in destillierter Reinheit aufzutreten, sondern bunt durcheinander wirbelt und kombiniert, so dass Klassenfragen gestern noch als nationale Fragen, heute als Frauenfragen, und morgen als Religionsfragen daherkommen.

Wagner ist kein Einzelfall und wird jede Kritik verschmerzen können, da er sie mit Tausenden von Mitkritisierten teilen kann. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Wagners Fehler durch und durch deutsche Fehler sind. Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Das ist gerade im Falle einer heute wie gestern imperialistischen Grossmacht wie Deutschland noch offenkundiger und leichter zu verstehen, als im Falle der Schweiz, die als Drehscheibe des Imperialismus fungiert. Aber wer ist dieser Hauptfeind? Doch nicht das Land und nicht das Volk, dem die Menschheit unzählbare Fortschritte in Technik und Wissenschaft zu verdanken hat, und das einen Hegel und Marx hervorbrachte! (10.07.2008-mh)

Fussnoten:

1 Thomas Wagner: Auf ideologischem Glatteis (Junge Welt, 17.06.08)

2 Josef Stalin: Marxismus und nationale Frage (in: Werke, Bd. 2)

3 Rosa Luxemburg: “Die russische Tragödie” (erschienen im Spartacus Nr. 11 vom September 1918). Zitiert nach: “Spartakusbriefe”, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dietz Berlin 1958, S. 453 ff.

4 Stalin: Über die Grundlagen des Leninismus, VI. Die nationale Frage (in: Werke, Bd. 6)

5 Stalin: Rede auf dem XIX. Parteitag der KPdSU (in: Werke, Bd. 15)

Siehe auch:

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