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Deutschland macht arm

Von Rainer Balcerowiak

«junge Welt» vom 22.10.2008: Armut und Einkommensungleichheit haben in Deutschland in den vergangenen Jahren wesentlich schneller zugenommen als in fast allen anderen 29 Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Das geht aus einer am Dienstag in Paris vorgestellten Studie der Staatengruppe hervor. Mit einer Armutsquote von elf Prozent der Bevölkerung liegt Deutschland mittlerweile weit über dem OECD-Durchschnitt. Als Ursache benennt die Studie vor allem das rasante Auseinanderdriften der Einkommen.

Während die Kluft zwischen arm und reich in Ländern wie Frankreich, Spanien, Irland, Griechenland und der Türkei 1985 bis 2005 leicht zurückging, ist sie in Deutschland enorm angewachsen.

Besonders betroffen von Armut sind inzwischen Kinder. »So blieb die Armutsquote bei Menschen über 65 in der Zeit von 1995 bis 2005 stabil bei rund neun Prozent, während sie bei Kindern im gleichen Zeitraum von 11 auf 16 Prozent gestiegen ist – und damit fünfmal so schnell wie im OECD-Mittel«, lautet das Fazit. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Arbeitsmarkt. Allein von 1995 bis 2005 ist der Anteil der Menschen, die in einem Erwerbslosenhaushalt leben, von 15,2 auf 19,4 Prozent gestiegen und damit auf den höchsten Wert innerhalb der OECD. Zudem seien die Transferleistungen in Deutschland im Hinblick auf Armutsvermeidung und -bekämpfung »nicht übermäÖig zielgerichtet«, heiÖt es in der Studie.

Wie zur Untermauerung der OECD-Studie präsentierten am Dienstag auch das Statistische Bundesamt (Destatis) und die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) neue Daten zur Überschuldung privater Haushalte und zu Verbraucherinsolvenzen. Auf einer Pressekonferenz in Berlin wie AG-SBV-Vize Marius Stark darauf hin, daÖ sich die Zahl der überschuldeten Haushalte von 1990 bis 2007 auf rund drei Millionen mehr als verdoppelt habe. Diese Haushalte sind kurz- und mittelfristig nicht in der Lage, mit ihrem Einkommen laufende Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Weitere 1,2 Millionen gelten als akut überschuldungsgefährdet. Auch die Erhebungen des Destatis und der AG SBV kommen zu dem Ergebnis, daÖ Erwerbslosigkeit die Hauptursache für Überschuldung ist.

Da die meisten Länder im Zuge von »SparmaÖnahmen« die Unterstützung für Schuldnerberatungsstellen teilweise drastisch eingeschränkt haben, könnten aber nur zehn bis 15 Prozent der Betroffenen qualifizierte Hilfe und Betreuung in Anspruch nehmen. Immer nach Aussendung der Doku-Soup »Raus aus den Schulden« beim Privatsender RTL würden sich Tausende Menschen bei den Beratungsstellen melden, die man wegen fehlender Kapazitäten dann für einige Monate vertrösten müsse, so Stark. Die Anzahl der bundesweit zur Zeit rund 2000 gemeinnützig tätigen Schuldnerberater müsse daher mindestens verdoppelt werden, forderte der AG-SBV-Sprecher. Denn ohne intensive Betreuung könnten Wege aus der Schuldenfalle, wie z.B. die Einleitung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens, das die Restschuldbefreiung nach sechs Jahren »gläubigerkonformem Verhalten« vorsieht, nicht beschritten werden. Statt dessen träten immer mehr gewerbliche »Schuldenregulierer« auf den Plan, die mit »Sofortberatung« werben. Wer aus nackter Verzweiflung deren Dienste in Anspruch nehme, habe danach aufgrund der horrenden Gebühren oftmals noch wesentlich mehr Schulden als vorher, warnte Stark.

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