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KP-Delegationen studierten das sozialistische China in seiner ganzen Komplexität

Delegationen kommunistischer Parteien des italienischen Sprachraums, darunter auch des Tessiner Partito comunista, bereisten kürzlich die Volksrepublik China. In einem Interview der türkischen Tageszeitung «Aydinlik» gibt Delegationsleiter Massimiliano Ay, Generalsekretär der KP Schweiz, seine vielfältigen Eindrücke, die auf der Reise gewonnen werden konnten, weiter. In Begenungen mit Menschen in Stadt und Land, in Betrieben, Repräsentanten der KPCh sowie der Wissenschaften versuchte man sich ein Bild über die Weiterentwicklung des chinesischen Sozialismus’ zu machen.

Dieses Interview wurde für die türkische Tageszeitung «Aydinlik» geführt. Die italienische Übersetzung wurde von der Redaktion von sinistra.ch bearbeitet.


Welche Themen haben Sie mit der Führung der Kommunistischen Partei Chinas besprochen?

Die Delegation, die ich die Ehre hatte zu leiten, umfasste neben der Kommunistischen Partei der Schweiz auch Delegierte von drei italienischen Parteien. Es war eine Reise, um China in seiner ganzen Komplexität kennenzulernen: Wir besuchten wichtige städtische Zentren wie Peking und Nanjing, aber auch periphere Dörfer mit landwirtschaftlicher Prägung wie Bijie, wo bis vor einigen Jahren Armut weit verbreitet war. So konnten wir uns ein konkretes Bild von den wissenschaftlichen Massnahmen der chinesischen Behörden machen, die nicht nur auf die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern auch auf die Umverteilung des Reichtums abzielen. Es fehlte nicht an Besuchen in Industrien, die auf eine ökologisch nachhaltige Entwicklung abzielen, in Kulturzentren und Universitäten sowie in den Parteizentralen der Bezirke, denn einer der Schwerpunkte unserer Reise war es, die Organisation der chinesischen Kommunisten in den Vorstädten, aber auch ihre Aufklärungsarbeit mit jungen Menschen zu studieren. Wir hatten das Privileg, mit Funktionären auf verschiedenen Ebenen offen zu diskutieren: In Peking trafen wir beispielsweise den Vizeminister für internationale Beziehungen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas und in Guiyang besuchten wir den Vizegouverneur der Provinz Guizhou, um im Wesentlichen zwei Themen zu besprechen: erstens einen Vergleich der institutionellen Aktivitäten auf kommunaler Ebene in den beiden Ländern und zweitens konkrete Hypothesen für kulturelle Partnerschaften mit Schweizer Städten und Formen der kommerziellen und touristischen Zusammenarbeit, wobei wir betonten, wie wichtig es ist, auch kleine Unternehmen und nicht nur grosse Marken einzubeziehen. Sehr fruchtbar war auch das Treffen mit der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, mit der wir Hypothesen für die Forschung im Bereich der Erneuerung des westlichen Marxismus aufstellten, zu dem wir als Kommunistische Partei der Schweiz ein wichtiges Know-how entwickelt haben.

Neben den formellen Sitzungen mangelte es auch nicht an Gelegenheiten zur Diskussion. Hier mit der Akademie der Sozialwissenschaften.


Haben Sie Beobachtungen gemacht über die chinesische Gesellschaft und Verwaltung, die Sie mit uns teilen möchten?

Zunächst einmal ist die Vorstellung einiger linker Parteien in Europa, China habe den sozialistischen Weg verlassen und sei zu einem kapitalistischen Land geworden, völlig falsch. Was sich in allen Bereichen der chinesischen Gesellschaft zeigt, ist die starke und strukturierte Präsenz der Kommunistischen Partei Chinas als führende Organisation, die auch alle Aspekte des Wirtschaftslebens des Landes, einschliesslich des Privatsektors, lenkt. Besonders beeindruckend ist das Ausmass der Leistungsfähigkeit der Parteiorganisationen vor Ort. Eine weitere wichtige Tatsache ist die enge Verbindung zwischen dem Patriotismus, der Verteidigung der nationalen Souveränität auch im kulturellen und wirtschaftlichen Bereich und nicht nur im militärischen Bereich, und dem Internationalismus, der in dem Konzept einer «menschlichen Schicksalsgemeinschaft» zum Ausdruck kommt, die auch dank der Neuen Seidenstrasse einen grossen Beitrag zur Entwicklung der ärmsten Länder der Welt leistet. Wir nahmen an einem Vortrag eines Professors der Kaderschule der Partei teil, der betonte, dass das Wohlergehen der Arbeitnehmer an erster Stelle stehe und dass «wir niemanden sich selbst überlassen dürfen, weder aufgrund des Alters, des Geschlechts noch der ethnischen Zugehörigkeit». In diesem Sinne wird beispielsweise intensiv an der Verbesserung des Rechts auf Bildung gearbeitet, indem die Zahl der Pflichtschuljahre erhöht und die Stipendien für die Kinder der ärmsten Bauernfamilien ausgebaut werden.

Die Delegation konnte eine Vorlesung an der Kaderschule der KPCh besuchen.


In Europa gibt es Ängste und Verdächtigungen bezüglich der «Abhängigkeit von China» und dass «China zu einem expansionistischen/imperialistischen Land wird». Wie beurteilen Sie diese Aspekte?

Das ist Unsinn! China respektiert die Souveränität aller Nationen, respektiert ihre Eigenheiten und ihre Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme und exportiert nicht sein eigenes Modell. Ausserdem ist es selbst aus marxistisch-leninistischer Sicht falsch, China als imperialistisches Land zu bezeichnen, da dieses Land kein kapitalistisches Hegemonialstadium erreicht hat, sondern einer sozialistischen Perspektive verhaftet bleibt. Vielmehr ist Europa vom atlantischen Markt unter der Führung der USA abhängig, und solange es sich nicht von diesem Joch befreit, kann es keine fortschrittliche Rolle in der künftigen multipolaren Welt spielen. Ich möchte noch hinzufügen, dass die Neue Seidenstrasse, wie gesagt, kein Expansionismus ist, sondern gerade der konkreteste Weg für die vom Imperialismus unterdrückten Völker, sich vom Neokolonialismus zu emanzipieren, ihre Unabhängigkeit nicht nur in Worten, sondern in Taten, d.h. durch wirtschaftliche Entwicklung, zu erobern. Es gibt nämlich keinen Sozialismus ohne eine produktive Revolution, wie auch Sie in der Türkei richtig erkannt haben.

Die Reise umfasste auch einige Treffen mit lokalen Zweigstellen der KPCh.


Es gibt eine weit verbreitete Vorstellung, dass Europa in der Mitte zwischen Russland und China auf der einen Seite und den USA auf der anderen Seite feststeckt. Welche Position sollte Europa heute und in Zukunft einnehmen?

Es ist klar, dass die USA mit dem Expansionismus der Nato nach Osten seit 1991, mit den farbigen «Revolutionen» in Osteuropa, mit dem faschistischen Staatsstreich in der Ukraine 2014 und mit der Bombardierung der russischen Zivilbevölkerung im Donbass in den letzten neun Jahren den Krieg nach Europa zurückholen wollten, um zu verhindern, dass sich Europa zu sehr nach Eurasien und den Schwellenländern öffnet und stattdessen an den atlantischen Markt gebunden bleibt. Um eine weitere Verarmung zu vermeiden, muss sich Europa stattdessen vom Diktat Washingtons emanzipieren, das eine untergehende Macht darstellt, die uns in einen Weltkrieg ziehen will. Das Gleiche gilt für mein Land: Wir Schweizer Kommunisten schlagen vor, dass die Schweiz, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten, da sie aufgrund des Mangels an Rohstoffen nicht autark sein kann, zumindest ihre Handelspartner stärker diversifizieren und sich gegenüber Schwellenländern öffnen sollte. In diesem Sinne unterstützen wir – entgegen der Meinung der sozialdemokratischen und ökologischen Linken in der Schweiz – offen das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China, setzen uns aber gleichzeitig für eine grössere Nahrungsmittel- und Energiesouveränität des Landes ein.

Die heiklen internationalen Themen waren Gegenstand von Gesprächen auf höchster Ebene. Hier im Aussenministerium der KPCh.


Der wirtschaftliche Erfolg Chinas ist weithin anerkannt. Wie beurteilen Sie als Kommunistische Partei diesen Erfolg? Glauben Sie, dass aus historischer und klassenbezogener Sicht ein ähnliches Modell und eine ähnliche Praxis wie in China auch in Ihrem Land und in Europa angewandt werden kann?

Bei einem der Treffen mit chinesischen Funktionären habe ich gesagt, dass für die Kommunistische Partei der Schweiz der Sozialismus nichts mit einem System der Gleichheit in Armut zu tun hat. Diese wirklich verrückte Idee ist leider in einem Teil der Linken und auch in einigen antikapitalistischen Parteien in Europa weit verbreitet: Die primäre Akkumulation des Kapitals und die Entwicklung der Produktivkräfte sind eigentlich wesentliche Elemente der marxistischen Analyse, die wiederentdeckt werden sollten. Zweifellos wird daher ein künftiger Übergang zum Sozialismus in der Schweiz nicht ohne eine dialektische Beziehung zum Markt auskommen können, wie sie China lehrt, aber man sollte nicht den Fehler machen, das chinesische Modell mechanisch in ein europäisches Land mit ganz anderen Kulturen zu importieren. Ich möchte anmerken, dass es in China trotz der Wirtschaftsreformen der letzten 40 Jahre immer noch Fünfjahrespläne gibt und der Staat eine starke Rolle spielt. Er lenkt die wirtschaftliche Entwicklung auf geplante und rationale Weise, im kollektiven Interesse der Nation und nicht im Interesse individueller Gewinne. Die auf dem Markt tätigen Privatunternehmer müssen sich den Vorgaben des Staates unterwerfen, der wiederum von der Kommunistischen Partei kontrolliert wird. In jedem Unternehmen gibt es neben den Managern immer auch ein politisches Gegenstück, das der Partei untersteht, so dass auch die privaten Bemühungen immer mit den allgemeinen Strategien der kollektiven Entwicklung vereinbar sind. Mit einem gefrässigen, ausbeuterischen westlichen Kapitalismus, der von einem liberalen Individualismus durchdrungen ist, hat das alles nichts zu tun. Die gleiche Situation finden wir an den Universitäten, wo es neben dem für die Lehre zuständigen Rektor auch den politischen Sekretär der universitären Parteizelle gibt, der die ideologische Ausrichtung kontrolliert.
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Das Interview ist in italienischer Übersetzung am 22. Juni 2023 auf www.sinistra.ch erschienen.