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Rifondazione – Wiedergründung des Kommunismus auf Nietzsches Lehre?

Nicht zum erstenmal lobpreist die italienische Partei der “Rifondazione Comunista” den Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) als Genie. Das Parteiblatt «Liberazione» hatte schon im 100. Todestag den Anlass erblickt, den Vordenker der faschistischen Ideologie gehörig zu feiern (Ausgabe vom 24. August 2000) und widmete dieser Geistesgrösse auch am 30. Mai 2002 nochmal eine ganze Seite, als gäbe es ausser ihm keinen anderen Philosophen. So darf es nicht verwundern, wenn nun auch der Ableger der Rifondazione unter den italienischen Immigranten in der Schweiz ein weiteres Mal Nietzsche ausgiebig beweihräuchert.

“Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen vergiftet.” (Nietzsche, Also sprach Zarathustra)

Zum Rifondazione-Artikel «Nietzsches Denken und die linke Kultur in Italien»:

Unter diesem Titel («Il pensiero di Nietzsche e la cultura di sinistra in Italia») erscheint in der Ausgabe Nr. 5 der «Rifondazione» vom 7. Dezember 2007 ein mit Prof. Umberto Fantauzzo gezeichneter Artikel eines grenzenlosen Nietzsche-Bewunderers.[1] Er stellt Nietzsche (der italienischstämmigen Leserschaft) zunächst als grossen Italienfreund vor und nimmt ihn sodann vorsorglich in Schutz gegen Vorwürfe der geistigen Nachbarschaft mit Hitler und Mussolini. Die Sache sei nämlich so gewesen: Mit Hilfe von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, welche seinen Nachlass verwaltete, habe Hitler eine faschistische Lesart von Nietzsche durchgesetzt. Demnach würde eine Vereinnahmung des unschuldigen Nietzsche durch die Nazis vorliegen, und Nietzsche wäre fein raus. Ein solcher Persilschein ist allerdings etwas dürftig, nachdem Georg Lukas («Die Zerstörung der Vernunft», 1954) und andere haufenweise Material zusammengetragen haben, welches Nietzsche als Stammvater und Wegbereiter der faschistischen Ideologie identifiziert. In der Reihe der Konstrukteure des Irrationalismus von Schopenhauer, Spengler über den Sozialdarwinismus[2] bis zu Rosenberg und Hitler wird Nietzsche die Hauptrolle zugeschrieben. Unter imperialistischen Bedingungen musste Nietzsches leidenschaftliche Verteidigung der Barbarei Geister wecken, welche ihn darin noch übertrumpfen sollten.

Der Autor des Rifondazione-Artikels schreckt nicht einmal vor dem Versuch zurück, Nietzsche und Marx Seite an Seite zu stellen. Das ginge allenfalls noch gerade an, wenn sich der Vergleich auf Dinge der Art beschränken würde wie sagen wir die Feststellung, dass sowohl Nietzsche wie Marx die Hohlheit der gängigen spiessbürgerlichen Moralvorstellungen entlarvt haben, Tabus gebrochen haben, Bürgerschrecke waren. Aber der Artikelschreiber will mehr und unternimmt einen Vergleich von Marxens Einsatz für die Abschaffung der Lohnsklaverei mit dem Nietzsche zugeschriebenen –Streben nach geistiger Befreiung des Individuums». Auf diese Manier soll der Anschein erweckt werden, zwischen Marx und Nietzsche bestehe eine grundlegende Gemeinsamkeit der Zielrichtung, beide würden nämlich in ihrer freiheitlichen, gegen Bevormundung gerichteten Tendenz übereinstimmen. Der Artikel gipfelt in der Behauptung, Marx und Nietzsche hätten mit unterschiedlichen Methoden analoge Ziele verfolgt und die weitere Forschung werde eine wachsende Quantität von Analogien zwischen Marx und Nietzsche bis hin zur Kompatibilität zu Tage fördern.

Der Autor fordert schliesslich für Italiens Linke ein besonders intimes Verhältnis zu Nietzsche, denn seit ihrer Gründung sei die Italienische Sozialistischen Partei immer für die menschliche Würde und für die Freiheit der unterschiedlichen Meinungen gestanden. Auch heute müsse die Linke diesen Individualismus fortsetzen. An alledem ist soviel richtig, dass einige Leute aus dem Gründerkreis der italienischen SP mit Nietzsches Lehren liebäugelten. Aus eben diesen Zirkeln gingen denn auch etliche faschistische Grössen wie Mussolini und Ferri hervor.

Worin liegt Nietzsches Bedeutung?

Wenn die Rifondazione die “Genialität“ Nietzsches zum Programmpunkt erhoben hat, ist das ihre Sache. Gewiss handelt es sich bei Nietzsche um den einflussreichsten Vertreter der bürgerlichen Philosophie in der imperialistischen Epoche, und der Einfluss seiner elitären Machtphilosophie (“Lebensphilosophie“) ist in allen bürgerlichen Strömungen vom Existenzialismus bis zur Frankfurter Schule nachweisbar. Indem der Artikelschreiber allerdings auch Stalin eine “enorme Sympathie“ für Nietzsche andichten will, treibt er es denn doch etwas zu bunt. Stalin wird kaum Anlass gehabt haben, sich mit Nietzsches Werken gründlich auseinanderzusetzen. In der 15–bändigen Werkausgabe Stalins erscheint der Name von Nietzsche kein einziges Mal.

Nietzsche hat eine Marktlücke gefüllt. Mit grossem Spürsinn, wenn man will geistreich, scharfzüngig und jedenfalls frühzeitig – in der Zeit des eben aufkommenden Imperialismus – hat er Konzepte vorgelegt, welche dem Bedarf der herrschenden Klasse nach neuen, brauchbaren Philosophien entsprachen. Die politische und gesellschaftliche Praxis der herrschenden Bourgeoisien hatte nämlich seit 1848 eine konterrevolutionäre Richtung eingeschlagen. Sichtbare Zeichen der reaktionären Wende der deutschen Bourgeoisie sind ihre Befürwortung der Annexionspolitik nach dem Deutsch-Französischen Krieg, ihre Unterwerfung unter die preussische Reichsgründung, die Bismarckschen Sozialistengesetze, der Übergang der Bourgeoisie von demokratischen auf nationalliberale Positionen, in Frankreich die blutige Abrechnung mit der Pariser Kommune 1871, in ganz Europa das Erstarken des Militarismus und die imperialistische Aussenpolitik. Diese Praxis stand in krassem Widerspruch zum humanistischen Erbe der Klassik. Gefragt waren also Philosophien oder Pseudo-Philosophien zwecks Wiederherstellung der Verträglichkeit zwischen dem praktisch-politischen Handeln der Bourgeoisie einerseits und dem gesellschaftlichen (bürgerlichen) Denken. In dieser Ausgangslage rangen mehrere Strömungen um die Vorherrschaft innerhalb der bürgerlichen Philosophie. Nietzsche und andere Vorläufer der Lebensphilosophie konkurrierten mit Positivisten (Comte-Epigonen) und Neukantianern im Wettrennen um die Ablösung des nicht mehr brauchbaren, aber noch vorherrschenden philosophischen Materialismus.

Nietzsches methodischer Ansatz bestand in der radikalen Umorientierung der bürgerlichen Philosophie weg von der aufklärerischen Richtung hin zur irrationalistischen Verklärung und Abkehr vom klassischen Erkenntnisoptimismus eines Goethe. Nietzsche setzte Gleichnisse und Offenbarungen anstelle von Begründungen, verhöhnte die grundlegenden philosophischen Begriffe (Kategorien) und erklärte die Geschichte als Kreislauf des Aufeinanderwirkens von biologisch triebhaftem “Willen zur Macht»”. Nietzsche hat dem Irrationalen, das sich im wissenschaftlichen 19. Jahrhundert in die Schlupfwinkel verkriechen musste, die Einfallstore breit geöffnet, und zwar nicht nur in die Philosophie. Heute füllen tibetanische Totenbücher, kabbalistische Buchstabensuppen und Tarot-Hexereien die Bücherregale.

Nietzsches philosophischer Gehalt läuft darauf hinaus, den in der imperialistischen Praxis vollzogenen Bruch des führenden Bürgertums mit den humanistischen, demokratischen Traditionen der eigenen Klassengeschichte zu legitimieren. Weit über die blosse Rechtfertigung des bürgerlichen Privateigentums und der Klassenausbeutung hinaus, verteidigte Nietzsche die Reaktion und verherrlichte den skrupellosen Egoismus des –Individuums», den Krieg, und das Herrenmenschentum der “blonden Bestie“. Nietzsche erklärt die Verletzung und Vergewaltigung des Schwachen durch das Starke zum Wesen des Lebens selbst, wettert gegen die Demokratie und verhöhnt die Sozialisten mit den Worten: «Man schwärmt jetzt überall … von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen der “ausbeuterische Charakter” abgehen soll: Das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte.»

Ein herausstechendes Merkmal von Nietzsches Lehren ist der extreme Individualismus. Zwar geht dieser Zug ganz allgemein durch die bürgerliche Philosophie, welche vom Standpunkt des individuellen Kapitalbesitzers ausgeht, von hier aus den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft verabsolutiert und dabei unterschlägt, wie sehr die Existenz des Einzelnen und seine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten in jeder Hinsicht durch gesellschaftliche Entwicklungen bedingt sind. Nietzsche vertritt diesen bürgerlichen Eigentumsstandpunkt radikaler als andere und löst ihn von moralischen Rücksichten. Das eigentlich Neue an der Umorientierung der bürgerlichen Philosophie auf Nietzsche liegt aber im ausgesprochenen Irrationalismus und in der offen antisolidarischen und antirevolutionären Tendenz. Die –Umwertung aller Werte» war eine Absage an das Gedankengut der französischen Revolution (Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit), die Forderung nach lustvoller Aggression unter Ausschaltung von Gewissensbissen, die sich laut Nietzsche für Herrenmenschen nicht ziemen, da er in ihnen ein Produkt der –jüdischen Sklavenmoral» erblickte.

Wer in der Rifondazione bedarf eines Nietzsche?

Nietzsches Weltbild sättigt nicht nur das Bedürfnis des Grosskapitals nach einer imperialismus-tauglichen Rechtfertigungsphilosophie. Obwohl im Grunde genommen dem Intellekt feindlich, ist Nietzsches Weltbild besonders zugeschnitten auf die gesellschaftliche Schicht der Intellektuellen in der kapitalistischen Gesellschaft. (Kautsky machte auf diesen Zusammenhang aufmerksam in «Franz Mehring», Neue Zeit, XXII, I, S. 101-03, 1903; und wird von Lenin ausgiebig zitiert in: «Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück».) Die Intellektuellen (Kautky spricht von “Literaten“) stehen in keinem direkten ökonomischen Gegensatz zum Proletariat, sondern teilen mit ihm das Schicksal, vom Verkauf der Arbeitskraft zu leben. Beide sind der Form nach Lohnarbeiter. Einiges unterscheidet die Literaten und weitere Intellektuellen dennoch grundlegend vom Proletariat:
  • Ein Proletarier kann sich nicht als isoliertes Individuum behaupten. Seine materielle Lebenslage und Sicherheit wird direkt durch die Korrelation zwischen den Klassenkräften und durch kollektive Massenkämpfe bestimmt. Dem bewussten Proletariat ist die Bedeutung der festen Disziplin und der starken Organisation deswegen sehr gut bekannt. Die Lebenslage der Intellektuellen bestimmt sich hingegen nach vorwiegend nach anderen Mechanismen.
  • Ein Arbeiter wird kommandiert und hat wenig Einfluss darauf, was er produziert, wie, für oder gegen wen er es produziert. Rosa Luxemburg brachte es auf den Punkt: eher als die Arbeiter zu konsultieren, würden die Generale ihre Gäule um Rat fragen, wohin sie die Kanonen ziehen möchten. Ein Intellektueller geniesst in der Regel weitaus grössere Freiheiten in der Gestaltung und Ausrichtung seiner Produktion, obwohl er seine Gedanken oft genug nach den konjunkturbedingten Vorstellungen der Bourgeoisie zurechtbiegen muss und Grund hat, sich zurückgesetzt zu fühlen.
  • Der Lebensstandard von Intellektuellen ist in der Regel gutbürgerlich; sie geniessen damit einen Beuteanteil aus der Ausbeutung der Lohnarbeit, den sie nur zum Teil verzehren, zum anderen als Grundeigentum oder in Form von Wertpapieren zurücklegen. Der daraus gezogene Jahresprofit übersteigt bei vielen Intellektuellen schon in den ersten Jahrzehnten ihrer Berufstätigkeit den Betrag ihres Jahresgehalts. Im Verlauf einer ordentlichen oder gar erfolgreichen Karriere nähert sich die individuelle Interessenlage des Intellektuellen infolgedessen immer mehr dem reinen Standpunkt des Kapitalbesitzers. Schon bei Jüngeren beeinflussen die Aussichten oder blosse Hoffnungen auf eine ordentliche Karriere die Vorstellungen und erzeugen Denkhaltung in entsprechender Richtung.

Solche Besonderheiten erschweren es den Intellektuellen, sich als Teil eines Kollektivs zu identifizieren und erzeugen die Neigung, die Rolle des Individuums zu überschätzen und dem Kollektiv zu misstrauen. Eine Theorie à la Nietzsche, welche für die breite Masse Disziplin und Zucht ansagt, aber jede zügellose Freiheit für den individuellen –Übermenschen» fordert, fällt bei Intellektuellen naturgemäss auf fruchtbaren Boden. Besonders, wenn diese Leute sich selbst zu den Übermenschen zählen, wie dies offensichtlich bei massgeblichen Kreisen der Rifondazione zutrifft.

Wieso nicht Rasputin?

Hat nicht Margareth Thatcher die englische Bourgeoisie von den Einflüssen der Gewerkschaftsmacht befreit? Hat nicht Hitler das Deutsche Reich von der Knechtung durch den Versailler Friedensvertrag emanzipiert? Wer Inhalten gegenüber blind ist und die politischen und philosophischen Nachbarschaften aufgrund von derartigen formalen Spielereien definieren will, gelangt natürlich zu beliebigen Ergebnissen und Gleichsetzungen. Als Anbeter des Individuums haben die italienischen Rifondatori die Qual der Wahl, ob sie ihre Partei auf die Offenbarung des Johannes oder doch lieber auf die Lehren des 7. Buches Mose abstellen möchten, ob auf Gramsci, Nietzsche, auf einen Renaissance-Fürsten vom Schlage eines Lorenzo von Medici oder Cesare Borgia. Wieso eigentlich nicht auf Rasputin? Hat dieser unheimliche Mönch nicht ebenfalls versucht, den Zarewitsch von der Bluterkrankheit zu befreien und die Zarin von ehelicher Langeweile zu emanzipieren, genau wie Marx und Engels die Proletarier von ihren Ketten befreien wollten?

(Januar 2008/mh)

1 Der Artikel “Il pensiero di Nietzsche e la cultura di sinistra in Italia” von Umberto Fantauzzo erschien im Monatsblatt der “Federazione Svizzera del PRC” (http://www.rifondazione.ch/inserto/rifondazione_cinque.pdf).

2 Zum Sozialdarwinismus siehe auch Engels’ Brief an Lawrow

 

Sul medesimo argomento, in italiano: “Che il Partito della Rifondazione Comunista (PRC) ormai seguisse una strada di liquidazionismo ideologico lo si sapeva da tempo, ma devo ammettere che sono rimasto allibito e sconvolto quando ho letto l–articolo sull’ultima pagina di ‘Rifondazione’, il mensile della Federazione Svizzera del PRC.” (Massimiliano Ay, membro del Comitato centrale del Partito Svizzero del Lavoro) – Leggi: Max Ay: Nietzsche e Marx non di davano la Mano (30.12.2007)