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Zwei Flüchtlingsgeschichten aus der Zeit um 1850:

Eilmarsch an die Grimsel

Im Oktober 1845 war der Freischarenzug vom Frühjahr noch in frischer Erinnerung. Die Freischärler waren geschlagen und ihrer reihenweise bei Malters im Luzernischen abgeschlachtet oder in Gefangenschaft geführt worden. Aber sie waren nicht die Leute, die sich damit abgefunden hätten. Sie wollten auch nicht hinnehmen, dass das dem Pfaffentum verfallene Regiment in Luzern Jesuiten als Schullehrer berief.

Die konservative Luzerner Regierung beschloss damals, zwei deutsche Freisinnige, Daffner und Fein, die sich in ihrer Gefangenschaft befanden, an die preussische Polizei auszuliefern. Der Transfer konnte allerdings unmöglich über die freisinnigen Kantone Bern, Aargau oder Zürich stattfinden. Als Umweg wurde die Route über den Furkapass ins konservative Wallis, und von dort aus via Simplon ins österreichische Oberitalien gewählt.

Dieser Plan wurde jedoch dem freisinnigen Geheimdienst hinterbracht, der seine Fäden bis in die Luzerner Verwaltung hinein gesponnen hatte. Als Johann Michel, der Anführer der oberländischen Ultraradikalen, von dem Vorhaben erfuhr, liess er Alarm schlagen und die wehrfähigen Dorfgenossen vor sein Haus in Bönigen rufen, wohin er sie gewöhnlich auch als Truppenkommandant aufbot. Sobald die ersten 25 Bewaffneten beisammen waren, führte er diese im Eilmarsch auf den Grimselpass hinauf, um die luzernische Polizeieskorte im obersten Wallis abzufangen, die Deutschen zu befreien und im radikalen Oberland in Sicherheit zu bringen.

Leider ging die Sache schief. Der Gefangenentransport wurde zufällig um einen Tag vorverlegt, so dass die Oberländer zu spät im Oberwallis angelangten. Sofort nahmen sie die Spur des Luzerner Trupps auf Walliser Boden auf, wurden aber schon bei Gletsch im Obergoms von Walliser Verbänden unter Beschuss genommen, so dass jede militärische und politische Beurteilung nur noch den Antritt des Heimwegs zuliess.

“Nous ne tirons pas sur nos frères!”

Um 1850 lebte in St. Imier der jüdische Arzt Basswitz aus Frankfurt an der Oder, ein papierloser preussischer Flüchtling. Obwohl er sich nicht in der Schweiz einbürgern lassen wollte, nahm er als Bataillonsarzt an der Grenzbesetzung von 1848 teil. Sein Einkommen als Spitalarzt und seine Praxis erlaubten ihm, Arme unentgeltlich zu behandeln. Er war sehr populär und besonders bei den Radikalen gern gesehen und gehörte sogar dem Gemeinderat an. Als 1850 in Bern die Konservativen unter Blösch ans Ruder gelangten, wurde Basswitz schikaniert und schliesslich ausgewiesen. Als er sich im Januar immer noch in St. Imier befand, gab die Regierung Auftrag zum Vollzug der Ausweisung. Am 11. Januar 1851befasste sich auch der Grosse Rat mit der Angelegenheit: mit 114 gegen 84 ging er über eine Petition von 1700 Bürgern, welche die Sistierung der Ausschaffung forderte, ohne Debatte zur Tagesordnung über. Um die “Ordnung aufrechtzuerhalten”, bot die Regierung gleichzeitig Truppen auf. Vorgefallen war weiter nichts als die Entwaffnung und Desuniformierung eines Landjägers. Die Regierung wurde verhöhnt, weil sie “pour les boutons d’un gendarme” soviel Aufhebens mache.

Der Berner Gerichtspräsident und Oberst Karl Gerwer wurde in die Freiberge beordert, um das Kommando über das Truppenaufgebot zu übernehmen. Die Bevölkerung von St. Imier zog den Truppen mit Musik und Fahnen entgegen. Gerwer gab Befehl, einen der Fahnenträger in Handschellen zu legen, was die Bevölkerung nicht zulassen mochte. Auf Gerwers weiteren Befehl zum Laden kam es dann zur offenen Meuterei unter den Truppen. “Nous ne tirons pas sur nos frères!” wurde gerufen, und der Herr Oberst musste den Fahnenträger wohl oder übel freilassen. Die Regierungsseite bestritt diese Darstellung der radikalen “Nation” und liess deren Redaktor Feusier wegen Hochverrats verfolgen. Basswitz selbst konnte sich ins Neuenburgische absetzen.

Im Februar konnte der Grosse Rat die Affäre nicht länger übergehen. Der Antrag des Radikalen (und nachmaligen Bundesrats) Stämpfli auf Missbilligung der Regierungspolitik zur Niederschlagung der Volksbewegungen im Jura (und in Interlaken) löste eine Debatte aus, die von acht Uhr morgens bis tief nach Mitternacht ohne Unterbruch fortgesetzt wurde und ein unerhörtes Echo im Land fand.

Damals und heute

Die gelebte Solidarität und Kampfbereitschaft der Radikalen, die Entschlossenheit und Volksverbundenheit einiger ihrer Führer ist vorbildlich und beweist, dass grossartige Kräfte im Schweizer Volk schlummern und dass es zu ganz anderen Dingen fähig ist als zu Fremdenhass, Futterneid und ängstlichen Bedenken. An uns linken Patrioten ist es, die fortschrittlichen, demokratischen, revolutionären Traditionen der Schweizer Geschichte wieder zu beleben. Der Freisinn, der noch 1890 der Tessiner Revolution applaudierte, hat diese Tradition einiges vor 1917 über Bord geworfen hat, und die Sozialdemokratie folgte ihm etwas später nach.

Quelle: «Vorwärts» – Die Sozialistische Zeitung, 8. Juni 2007


Literatur: Beat Junker, Die Geschichte des Kantons Bern seit 1798, Band 2. (Die Entstehung des demokratischen Volksstaates 1831-1880), vgl. 3. Teil: Konservatives Zwischenspiel 1850-1854, und besonders Abschnitt 3.2.1. Unruhen in Interlaken und im Jura. Richard Feller, Berns Verfassungskämpfe 1846, Bern 1948, zum “Grimselzug” S. 202f. Udo Robé, Berner Oberland und Staat Bern, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, 56. Band, Bern 1972, vgl. Referenzen zum “Grimselzug” S. 428, Fussnote 2. Paul Wäber, Die Unruhen im Amtsbezirk Interlaken im Januar 1851, in: Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1914, Bern 1913, S. 261ff. (aus konservativer Sicht; zu den Ereignissen in St. Imier siehe S. 287ff.)