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«Ich werde gegen Erdoğan stimmen, aber bedroht fühle ich mich deswegen nicht»

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Massimiliano Ay

Noch vor zwei Wochen war der Tessiner Grossrat Ay in der Türkei: «Auf der Botschaft wissen sie, wer ich bin.»

ticinonews.ch (30. März) – Seit Montag können die im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger offiziell für das Verfassungsreferendum abstimmen, zu welchem am 16. April das ganze Land aufgerufen ist. Bekanntlich würde die von der AKP-Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vorangetriebene Reform im Falle ihrer Annahme demselben zusätzliche Befugnisse einräumen, wobei das Amt des Premierministers faktisch aufgehoben wird. In den letzten Wochen hat sich darüber in ganz Europa, wo zahlreiche türkische Staatsbürger wohnen, eine Debatte entzündet, und die diplomatischen Beziehungen zwischen den europäischen Ländern und der Türkei haben sich unversehens kompliziert, wobei auch die Schweiz für einige Affären im Zentrum der internationalen Chronik steht. Zahlreich sind die Bürger mit türkischem Pass auch im Tessin, darunter der Parlamentarier Massimiliano Arif Ay (Kommunistische Partei), den wir kontaktiert haben, um Näheres von Einem zu erfahren, der kürzlich die Türkei besucht hat.

Wie bewerten Sie die Vorgänge auf europäischer Stufe in dieser Phase vor der Abstimmung?

<< Die Beziehungen zwischen der Türkei und europäischen Ländern haben sich nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom letzten Sommer verschlechtert. Ein Erdogan, der vordem als gemässigter Islamist definiert worden war, ist auf einmal zu einem Staatsfeind Nummer Eins geworden. Bis kurz vorher war die westliche Welt eher schweigsam, dann begann sich ein feindseliges Klima zu schaffen und mit dem Referendum ist die Lage ein wenig explodiert.
Seitens der westlichen Länder denke ich, dass dieser Angriff einerseits gerechtfertigt ist, weil Erdogan kein Demokrat ist, wie wir 2013 beim Gezi Park gesehen haben, und weil die Verfassungsreform die laizistischen und demokratischen Institutionen in Gefahr bringt. Anderseits kommt die Blockade von Versammlungen indirekt Erdogan zugute, indem er sich in der Rolle des Opfers aufspielen kann. Indem er dies tut, gewinnt er sich einen Teil der nicht regierungsgebundenen nationalistischen Wählerschaft zurück, welche sich angesichts dieser Händel dem Präsidenten wiederum annähert, in Reaktion auf das, was als Einmischungen von Seiten Europas wahrgenommen wird. Kurzum, nach meiner Einschätzung ist das Ganze kontraproduktiv. Ich bin bekanntlich gegen Erdogan und werde gegen die Verfassungsreform stimmen. >>

Die Schweiz fährt aussenpolitisch einen einigermassen kritischen Kurs gegenüber der Abstimmung, wenn wir an die Initiative des «Blick» und das in Bern ausgehangene Plakat denken … Sind die Beziehungen unter beiden Nationen nun beeinträchtigt?

<< Die Phase vor der Abstimmung hat zweifellos eine wichtige Rolle gespielt. Alles hatte seinen Ausgangspunkt in Holland, aber für die Eidgenossenschaft ist zu sagen, dass sich die Regierung ohne Zweifel ausgeglichen verhalten hat. Was hingegen der Blick unternahm, hat Reaktionen entfesselt, welche tatsächlich Erdogan zum Vorteil gereichen. Ich glaube nicht, dass sich längerfristig die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei völlig verschlechtern, auch weil auf schweizerischer Seite nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Interessen im Spiel stehen. Überdies glaube ich, dass die Türkei nach dem Putschversuch im Begriff ist, ihre eigene geopolitische Position zu verändern: sie bleibt vorerst in der Nato, aber sie verschafft sich grössere Autonomie vom atlantischen System. Die der Gülen-Sekte nahestehenden Militärs, die grundsätzlich fliehen und in Europa Asyl beantragen, sind ausgerechnet die hohen Nato-Offiziere … also Personen, die früher in die Repression der türkischen Linken verwickelt waren und nach dem Putsch nun plötzlich zu Verfechtern der Demokratie werden. Da liegt die grosse Heuchelei, die ich in Europa wahrnehme. Jetzt, weil man sieht, dass die Türkei einen Wandel vornimmt und sich Russland, China und den Schwellenländern der eurasischen Grossregion öffnet, ist es klar, dass im Westen eine erboste Reaktion aufkommt, und in der Verfassungsreform einen Vorwand findet, um dem Ärger Ausdruck zu verleihen. Dahinter steckt also etwas ganz Anderes. >>

Nach einigen Vorfällen in der deutschen Schweiz, wie an der Universität Zürich, gibt es Behauptungen, dass auch im Tessin türkische Spione tätig seien. Ist diese Annahme realistisch?

<< Mir fehlen die Elemente für eine konkrete Antwort, allerdings gibt es wahrscheinlich auf unserem Territorium sowohl Leute von Erdogan wie von Gülen, und beide werden überwacht, aber besondere Sorgen mache ich mir über die von Gülen finanzierten Privatschulen in der Deutschschweiz. Aufgrund meines letzten zweiwöchigen Besuchs in Ankara, wie auch eines vorangegangen Besuchs kurz nach dem Putschversuch, als der Ausnahmezustand verhängt wurde, muss ich übrigens sagen, dass die Repression mir eher selektiv schien. Vor vierzehn Tagen nahm ich an einem Kongress teil, der Propaganda gegen die Reform machte, wo wir uns frei versammelten; und ich hätte nicht gehört, dass irgendeiner festgenommen worden wäre. Ähnlich auch im Januar, als sich die Kommunistische Partei zu ihrer Wiedergründung mit Tausenden von Personen versammelte, ohne Arreste und Repressionen. Klar, ich will die Lage nicht banalisieren, denn eine Spannung gibt es tatsächlich, aber man übertreibt bei ihrer Darstellung. Ich fühle mich nicht bedroht, weder hier im Tessin noch, wenn ich in die Türkei gehe. In der Botschaft ist meine Gegnerschaft zum Präsidenten bekannt. >>

Kein Problem wegen des Besitzes der doppelten Staatsbürgerschaft, in diesem Moment?

<< Nein, ich habe keine Probleme festgestellt. >>

Wie wird die Abstimmung ausgehen?

<< Ich bin zuversichtlich, dass die Reform verworfen wird, ich habe eine erfreuliche Bewegung auch auf Ebene der Oppositionsparteien gesehen, mit berechtigtem Enthusiasmus… einige Chance für die Ablehnung ist da! Erdogan ist allerdings eine sehr zweifelhafte Persönlichkeit, man wird sehen müssen, wie er auf eine eventuelle Niederlage reagiert. Gegenwärtig befindet er sich in einer Phase der Schwäche, trotz allen lauten Worten. Meine Hoffnung geht dahin, dass, im Falle eines Nein am 16. April, die Oppositionsparteien sich im Versuch einigen, die laizistischen Werte und republikanisches Denken wieder zu entdecken, neben der Solidarität unter den ethnischen Volksgruppen. >>

OC

Original (ital.): Voterò contro Erdoğan, ma non mi sento minacciato (ticinonews.ch, 30 marzo 2017) | Übersetzung: kommunisten.ch (01.04.2017)


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