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Schulsystem der Schweiz vertieft die Klassenspaltung im Zugang zur Bildung

Bern, 9.12.08 – In der Schweiz gibt es punkto Einkommen, Bildung, oder Geschlechterrollen noch grosse Unterschiede. Das Land macht aber die gleichen gesellschaftlichen Entwicklungen mit wie das übrige Europa. Diese Schlussfolgerungen zieht der Sozialbericht 2008, der am Dienstag vorgestellt wurde.

Allgemein stellt der Bericht eine Angleichung der gesellschaftlichen Entwicklungstrends in den verschiedenen Ländern fest. Die Schweiz habe aufgehört, ein Sonderfall zu sein. In Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter liege die Schweiz im Mittelfeld. Die extremste Diskriminierung erleben die Spanierinnen. Die geringsten Geschlechterunterschiede weist Schweden auf.

Gleichwohl gebe es schweizerische Besonderheiten. Die Schweiz gehört laut Bericht auf Platz zwei nach Schweden zu den Ländern mit der positivsten Einstellung gegenüber Immigranten.

Bildungskrise im Lande Pestalozzis

Schlecht schloss aber die Schweiz im Vergleich der Bildungssysteme ab. Dabei gibt es in diesem Land Gegenden, wo dörfliche Schulen in vielen Gegenden schon vor Jahrhunderten die Bauern alphabetisiert haben. Im 19. Jahrhundert haben die Radikalen eine umfassende Demokratisierung des Bildungswesens durchgeführt, Jesuiten und Klöster vom Einfluss auf die Schulen ausgeschlossen und die allgemeine Schulpflicht auch im hintersten Winkel durchgesetzt. Aber heute müssen mystifizierte Vorstellungen über die Höhe des schweizerischen Schulwesens endgültig beiseite geräumt werden.

Wie der Soziologe René Levy darlegte, erben in allen untersuchten Ländern die meisten Kinder den Bildungsstand ihrer Eltern. In Schweden war der Anteil der Kinder, die einen höheren Bildungsstand als die Eltern erreichten, am höchsten. Das andere Extrem zeigt sich in Deutschland und der Schweiz. Vor allem sind es die Männer, die eine höhere Bildung erreichen, während Frauen meist die gleiche Bildung haben wie ihre Eltern. In der Schweiz klaffte hier aber eine besonders grosse Geschlechter-Schere. “Das Selbstverständnis der Schweizer Gesellschaft, auf der individuellen Leistung aufgebaut zu sein, ist stark übertrieben”, kommentierte der Forscher der Uni Lausanne.

Schulsystem verstärkt Chancenungleichheit

Die Schule sorge nicht für Chancengleichheit, sondern vertiefe die Ungleichheit im Zugang zur Bildung, kritisierte Levy. Benachteiligt werden vor allem die Kinder aus so genannt “bildungsfernen Schichten”. Die frühe und schwer korrigierbare Selektion spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Autoren warnen vor den Folgen der verbreiteten Praxis, die einer grosse Minderheit der Schulabgänger den Zugang zu einer Berufslehre oder anderen Ausbildungsmöglichkeiten verwehrt.

Nachhilfe: Privatisierung auf Schleichwegen

Erst vor Tagen war eine Studie der Universität Bern vorgelegt worden, welche laut dem Studienleiter und Professor an der Forschungsstelle für Bildungsökonomie der Universität Bern, Stefan Wolter, die Gefährdung der Chancengleichheit in der Schule aufzeigt. Die Untersuchung zeigt, dass zwei von drei Elternpaaren ihr oder ihre Schulkinder in den bezahlten Nachhilfeunterricht schicken. Wolter konnte über den Umfang der privaten Nachhilfestunden keine genauen Angaben machen. Klar sei aber, dass das Einkommen darüber entscheidet, “ob ein Kind Nachhilfe bekommt oder nicht”, sagte er einem Interview mit der Zeitung “Sonntag”. Die Studie berücksichtigte nur Schweizer Eltern. Sie unterschätzen damit die tatsächliche Chancenungleichheit, die sich ergeben würde, wenn die Ausländerkinder einbezogen worden wären, sagte Wolter.

Um die Chancengleichheit wieder herzustellen, schlägt Wolter Tagesschulen oder ein Verbot von Hausaufgaben vor.

Belege, Eingeständnisse und Kritiken

Damit belegt die offizielle Forschung einige wichtige Wahrheiten, und gibt indirekt weitere zu. Der Sozialbericht 2008 wurde mit der Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF), der Schweizer Stiftung für die Forschung in den Sozialwissenschaften (FORS) und der Faculté des lettres et sciences humaines der Universität Neuenburg veröffentlicht. Halten wir fest, was da von keineswegs regierungsfeindlichen Kreisen mehr oder weniger zugegeben und teils in einer Offenheit ausgesprochen und kritisiert wird, welche den Forschern Ruhm und Anerkennung einträgt:
  • dass die Schweiz 200 Jahre nach Wirken des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi und nach zwei Jahrzehnten Wirken des Neoliberalismus, in einer tiefen Bildungsmisère steckt, noch bevor die Offensive zur Zerschlagung des öffentlichen Bildungswesens zur vollen Entfaltung gelangt ist;
  • dass das bürgerliche Schulsystem – anstatt Handicaps auszugleichen und für Chancengleichheit des Proletarierkindes zu sorgen – die innerhalb der Klassen vererbten Bildungsprivilegien zementiert und verstärkt;
  • dass die offizielle Theorie und Regierungsprogramme “bildungsferne Schichten” definieren und zum Ziel deklarieren, den benachteiligten Kindern aus diesen Schichten zu gleichen Chancen zu verhelfen, wogegen die Praxis der staatlichen Schulen darin besteht, diese Benachteiligung und damit auch die “Bildungsferne” von Generation zu Generation zu vergrössern.

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