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«Ne mutlu Türküm diyene» – Das türkische Volk erteilt dem Westen eine Lektion in Demokratie

Ne mutlu Türküm diyene

“Auch heute sehen wir eine Reihe von Faktoren, welche uns dazu berechtigen, nicht geringe Hoffnungen in die türkischen Volkskräfte zu setzen.” Diesen Satz haben wir am Vorabend des Putschversuchs publiziert, ohne entfernt daran zu denken, dass die türkischen Volksmassen wenige Stunden später herausgefordert werden könnten, ihre Tüchtigkeit und ihren Mut auf die Probe zu stellen. Mit todesverachtender Entschlossenheit haben sich die zur Verteidigung der Demokratie herbeigeeilten Patrioten einem pro-imperialistischen Putschversuch entgegengeworfen. “Ne mutlu Türküm diyene – Ich bin glücklich, ein Türke zu heissen”, riefen sie den Putschisten entgegen, dann eröffneten diese das Feuer auf die Menge. (VIDEO: http://www.youtube.com/watch?v=Kh4cqozYBuw )

Das türkische Volk hat dem Westen eine grossartige Lehre in Sachen Demokratie erteilt: Die Souveränität geht vom Volk aus, das soll man sich in westlichen Hauptstädten hinter die Ohren schreiben, wo Regierungen und Presse gewohnt sind, Willensäusserungen der eigenen Völker mit Argwohn zu betrachten. Demokratisch handelt, wer das aktive Eingreifen der unerschöpflichen Kräfte der Volksmassen anruft, wie dies der Präsident der Türkischen Republik Recep Tayyip Erdoğan in der Nacht des Putsches in beispielhafter Weise getan hat. Die Niederlage der Putschisten ist ein Sieg der Demokratie, was immer sonst behauptet werden mag.

Hintergründe

Die Putschisten, die in der Nacht von Freitag 15. auf Samstag 16. Juli versuchten, die verfassungsmässige Ordnung der Türkei gewaltsam zu beseitigen, besetzten die Fernsehstudios der staatlichen TRT und erzwangen zwecks Verschleierung ihre wahren Absichten die Verlesung eines Bulletins, in welchem sie sich als Verteidiger der laizistischen Tradition des Landes gegen die Islamisierungspolitik Erdogans tarnten. In Wirklichkeit handelt es sich um Agenten der Sekte des US-türkischen Magnaten Fetullah Gülen, darunter eine Reihe von ranghohen Offizieren, deren Entlassung bereits ausgesprochen war oder anlässlich der bevorstehenden Versammlung des Obersten Militärrats erwartet wurde.

Entgegen gewisser Behauptungen erfolgte der Putschversuch nicht völlig überraschend: Aufgrund ihrer Analyse des Davoser World Economic Forum 2016, wo Gespräche zwischen grossen internationalen Finanzgruppen und einflussreichen türkischen Kreisen, darunter dem damaligen türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu geführt wurden und offenbar die Entmachtung des gewählten Präsidenten Erdogan zum Gegenstand hatten, warnte die Patriotische Partei von Doğu Perinçek bereits im Februar vor einem Putschversuch in der Türkei im Verlauf des Sommers.[1]

Es mag sein, dass das hohe Tempo der Wiederannäherung zwischen Ankara und Moskau die Feinde der Türkei dazu bewogen hat, früher als geplant loszuschlagen, weil die Zeit rapid gegen sie arbeitet: Die Türkei beginnt, ihre Abwehrkräfte gegen die erlittenen Schwächungen zu mobilisieren und zu vereinen, und die Staatsführung versichert glaubhaft und mit Fakten ihre Bereitschaft, folgenschwere Irrtümer der Vergangenheit zu korrigieren. Und ein weiterer Faktor, welcher Putschversuche in Zukunft massiv erschweren könnte: Russland hat der Türkei umfangreiche Hilfe und Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus zugesagt, wozu Russland eine reiche Erfahrung im Umgang mit der imperialistischen Subversion in der Russischen Föderation und anderen ex-sowjetischen Republiken sowie seine hoch entwickelte Technologie der Terrorabwehr einbringen kann. Dieser Faktor der Eile, der unausgereifte Grad der Vorbereitungen, könnte zum relativ raschen Zusammenbrechen des Putschversuchs beigetragen haben.

Wer sind die Putschisten?

Die Parallel-Struktur von Befehlsketten ausserhalb der gesetzlichen Ordnung reicht weit über die Streitkräfte hinaus in den Justiz- und Finanzapparat des Staates hinein. In den jüngsten Coup waren Landheer, Marine und Geheimdienst nach bisherigem Kenntnisstand nur in geringem Masse verwickelt. Er stützte sich hauptsächlich auf Kräfte der Gendarmerie und der Luftwaffe:
  • Als operativer Leiter wird Akın Öztürk verdächtigt, der von 1998-2000 als Militärattaché in Tel Aviv tätig war, von 2013 bis 2015 als Chef der Luftwaffe diente und weiterhin einen Sitz im Obersten Militärrat der Türkei behielt.
  • Mit von der Partie waren nach Pressemeldungen auch General Bekir Ercan Van und Generalleutnant İshak Dayıoğlu , Kommandanten des strategisch wichtigen Flugplatzes Incirlik, der NATO-Basis für die Einsätze in Syrien. Nach Abriegelung der Zugänge zu Incirlik durch regierungstreue Kräfte, Unterbrechung der Stromzufuhr und Sperrung des türkischen Luftraums sassen auch die deutschen und US-Flugzeuge in Incirlik fest.
  • Unter den Putschisten befindet sich pikanterweise auch der Pilot, der im vergangenen November eine russische Su-24 abgeschossen hatte. Die Vermutung, dass der damalige Abschuss eine wohl präparierte Aktion war, um Erdogan eine Falle zu stellen2, gewinnt damit gewaltig an Auftrieb und wird sicher einen Schwerpunkt des Interesses für die weiteren Ermittlungen bilden. Sollte sich bewahrheiten, dass diese Befehlsempfänger Washingtons hinter dem Abschuss standen, dann würde sich damit der Hauptanlass für die gehabte Verschlechterung der türkisch-russischen Beziehungen als gegenstandslos erweisen, was dem gegenseitige Annäherungsprozess einen gewaltigen Impuls verleihen könnte.

Reaktionen im Westen: Lippenbekenntnisse zur Demokratie und Forderungen nach freier Bahn für den Anlauf zum nächsten Putsch

Als sich das Scheitern des Putsches abzeichnete, mehrten sich auch Lippenbekenntnisse der Distanzierung von demselben seitens der Regierungen der NATO-Mächte. Etwas offener ist die Sprache der breiten antitürkischen Koalition, welche sich hierzulande in den letzten Jahren herausgebildet und gut eingespielt hat, und die von der bürgerlichen Presse bis tief ins linke Spektrum reicht (wo sich die “Junge Welt” mittlerweile zu einem Kompetenzzentrum für Desinformation über die Türkei entwickelt hat). Nur wenige Publikationen entziehen sich dem Unisono und bieten brauchbares Material zu den sich überstürzenden Ereignissen in der Türkei, so die Internet-Zeitung Deutsche Wirtschafts-Nachrichten .

Die genannte breite Koalition verurteilt den Militärputsch floskelhaft und beklagt die Opfer, aber kann ihre Enttäuschung darüber schwer verbergen, dass sich Erdogan nicht darunter befindet. Sie fordert von der Türkei die Schonung der Putschisten und kritisiert die Abwehrmassnahmen gegen weitere Putschversuche, noch bevor der aktuelle endgültig niedergeschlagen ist. (In der Tat hat sich die Lage in der Nacht auf Montag erneut angespannt. Laut einigen Berichten melden die Türkischen Streitkräfte Dutzende von Helikoptern als vermisst; im Raum Istanbul werden Polizeikräfte zusammengezogen und angewiesen, jeden in der Luft befindlichen Helikopter ohne Vorwarnung abzuschiessen.) Da sich das Zeitfenster für Angriffe auf eine geschwächte und isolierte Türkei bald schliessen könnte, besteht auf kurze Frist eine gesteigerte Gefahr von Terroranschlägen und Putschversuchen. Dessen ungeachtet beschäftigt sich die Presse weiterhin mit Spekulationen und dem Werweissen darüber, ob der Putsch denn auch wirklich echt gewesen sei … – oder etwa getürkt.

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1 Saray’a Eylül’de darbe hazırlığı – Aydınlık Gazetesi (13.02.2016)

2 siehe: Zugeständnisse der westlichen Medien: der Feind ist nicht Erdogan, sondern die Türkei

(mh/18.07.2016)


Siehe auch:


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